The Fall

Der Moment, in dem man Fällt

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Es heißt, dass unsere Zeitwahrnehmung langsamer wird, wenn unsere Körper wissen, dass sie in Gefahr sind. Ich bin der Beweis, dass es stimmt.

Es ist unglaublich, wie viele kleine Details einem auffallen, wenn man in Zeitluppe fällt. Die Art und Weise, wie der Wind meine Haare zum Himmel Zieht und gegen meine Arme und Beine drückt wie ein unberührbares Kissen, zum einen.

Der Wind trägt den Geruch der Stadt unterhalb: hauptsächlich Abgase, aber auch der leckere Duft von Fleisch, das irgendwo brät.

Ich stelle mir vor, dass ich ferne Stimmen von der Straße, die wenig mehr ist als ein grauer Faden, der sich näher kämpft, hören kann, aber das Flüstern in meinem Ohr ist wahrscheinlich nichts weiteres als ein Spiel des Windes.

Du wunderst dich vielleicht wie ich hier gelandet bin, im freien Fall vom 109. Stock eines städtischen Wolkenkratzers. Die kurze Antwort ist: mit Anlauf.

Die komplette Geschichte ist natürlich viel länger, und ehrlich gesagt ist sie gar nicht so interessant. Einfach ein Haufen miserabler Klischees, die sich zu einem Schneeball zusammengehäuft haben der immer größer und schneller wurde, bis er mich vom Rand gestoßen hat.

Es wäre traurig, wäre es nicht so dass manche Leute von Anfang an keine Chance haben. Menschen wie ich.

„Menschen wie ich.“ Was für eine wunderbar vage Beschreibung. Wer sind Menschen wie ich?

Man würde denken, dass es nicht viele Menschen wie mich gibt. Ich meine, wie oft hört man von einer jungen Frau, die sich in eine Amerikanischen Großstadt über den Gehsteig zerstreut?

Ich gebe einen Tipp: nicht so oft, wie es tatsächlich passiert. Und hey, nicht jeder trifft die gleiche Entscheidung wie ich. Sie senken einfach die Köpfe und leben weiter. Bis sie zerfallen.

Als ich zehn war, schickte mich meine Mutter jeden Sonntag zu der Bibelstunde. Ich verstand nie warum, wir waren keine religiöse Familie. Zurückblickend, denke ich sie wollte einfach für ein paar Stunden etwas Zeit für sich allein.

Es gab drei von uns Mädchen dort: Marissa, Jenny und mich. Allerdings hat Pfarrer Dan, der Bastard, der das ganze Schauspiel leitete, nie gewagt, Jenny anzufassen.

Ihre Familie war heil, die Art, die sich beim Abendessen unterhält, ohne sich danach zu hassen.

Stattdessen nahm er Marissa und mich ins Visier. Marissas Eltern waren nämlich Crack Junkies. Sie war ein noch leichteres Ziel als ich. Also suchte er sich immer wieder Ausreden, um mit uns jeweils alleine zu sein.

Extra Bibelstunden, im Pfarrhaus Helfen, solch ein Mist. Es lief ein ganzes Jahr bevor Marissa und ich merkten, dass er es mit uns beiden tat.

Danach wurde Marissa zu meiner besten Freundin. Wissen das wir zusammen waren half, ein bisschen. Nicht genug, aber hey, man kann ja nicht alles haben.

Pfarrer Dan hat nach ein paar Jahren das Interesse verloren. Es gab neue Mädchen, jüngere Mädchen, und wir worden ersetzt. Es wäre überflüssig zu sagen, dass ich erleichtert war.

Vielleicht nicht ganz so überflüssig, wie zu sagen, dass ich wütend war. Wie konnte er es wagen, uns wie Mühl wegzuwerfen? Er konnte in unsere Leben tauchen und mutwillig alles zerstören und dann einfach wegschleichen als wäre nie was passiert.

Für uns konnte es nie so seien, als wäre nie etwas passiert. Marissa hatte komplett den Boden unter den Füßen verloren. Sie starb zwei Jahre später, irgendeine Art von Überdosis.

Zu dem Zeitpunkt waren wir schon nicht mehr so eng befreundet. Sie war wohl jemand wie ich.

Diese Menschen habe ihre eigene Version von Pfarrer Dan, der die Familie immer so tatkräftig unterstützt, wie könnte er nur böse sein?

Und natürlich ist die Familie nicht sonderlich eng gestrickt – was hätte den Bastard sonst angelockt? – und natürlich verbringen diese Leute ihre High School Tage damit, sich vor Hänseleien wie vor Kugeln zu ducken.

Es gibt kein Geld um auf das College zu gehen, und überhaupt, mit den ewigen Zusammenbrüchen – vielleicht ist es Borderline, vielleicht einfach eine Depression – wäre es sowieso schwierig, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.

Aber, welch eine Überraschung, sie können auch keinen richtigen Job langfristig belegen. Also geht es von einer einfachen Aufgabe zur nächsten, Hand zu Mund, während man sich jeden Morgen fragt, warum man nicht einfach aussteigen kann.

Aber wir können aussteigen. Alles, was wir dafür tun müssen, ist die Sachen loslassen, die uns zurückhalten. Für manche Menschen ist es die Angst. Vor dem unbekannten und so, wobei ich nicht nachvollziehen kann, inwiefern das schlimmer sein könnte, als das, was ich hinterlasse.

Und dieser Moment, jetzt genau, ist der friedlichste in meinem ganzen Leben. Es gibt nur mich und den Wind und die kleine Stadt die aussieht als gehöre sie zu einer Modelleisenbahn. Im Schneckentempo wachsend.

Dann gibt es diejenigen die, wie ich, keine Angst haben, aber die (anders als ich) immer noch etwas haben, das sie zurückhält. Es kann etwas so einfaches sein wie eine Katze, die gefüttert werden muss, oder einem Freund, der einem noch nicht in den Rücken gefallen ist.

Und man macht jeden Tag weiter, für seine Katze oder Freund oder was auch immer, und die ganze Zeit wundert man sich: lohnt sich das Ganze?

Nach der Sache mit Marissa hatte ich eigentlich nichts, das mich zurückhielt. Ich hatte einfach nur Angst. Damals in der High School hatte ich vor so vielen Sachen Angst.

Es begann in meinem ersten Jahr. Ich hätte genauso gut mit einer großen Zielscheibe auf meiner Brust gemalt in diese Schule gehen können: Hochbegabtenklasse, alte Klamotten, kaum Selbstvertrauen (danke, Pfarrer Dan).

Da war ich, das unsichere Mädchen, nicht darauf vorbereitet, mit den bösen Zungen und gelegentlichem Schubsen umzugehen. Erwachsene sagen einem, „ignoriere sie und sie lassen nach“, aber wir wissen alle, dass das nicht stimmt.

Rüppel zu ignorieren zeigt ihnen, dass sie einen verletzen. Eine viel bessere Taktik ist es, einfach mitzuspielen und alles umzukehren:

über ihre blöden Hänseleien lachen, so tun als ob nichts davon einen verletzt, als ob man sie mag und will, dass sie einen auch mögen.

Das habe ich nicht rausgekriegt bis zu meinem letzten Jahr, als ich diese Kinder wegschmelzen lies. In meinem Hinterkopf gab es immer einen Plan, es ihnen irgendwie heimzuzahlen.

Etwas in ihre Rucksäcke schütten, ihre Jacken stellen, solche kindische Sachen. Ich habe es aber nie getan. Nachdem ich endlich den Weg aus dem Fegefeuer gefunden hatte, wollte ich nicht wieder hineingeraten.

In Filmen sind die Rüppel oft hochnäsige reiche Kinder. Was für ein blödes Klischee. Klar, manche von ihnen hatten den IQ einer durchschnittlichen Aubergine, aber es gab auch schlaue Kinder in der Gang. Die nettesten haben mich nur ignoriert.

Was den Rest angeht, naja, ich denke irgendetwas an mir hat sie wahrscheinlich angepisst (ich werde jetzt nicht die Liste durchgehen).

Ich weiß noch wie ich eines Tages aus der Pause zurückgekommen bin und – kein Scherz – einen blutigen Tampon in meiner Tasche gefunden habe. Einen blutigen Tampon.

Irgendein Mädchen hatte das Ding benutzt, es aus den Toiletten mitgenommen, und war dann damit in das Klassenzimmer zu meiner Tasche geschlichen.

Man braucht sich nur den Aufwand (und den allgemeinen Eckel) vorzustellen, der für dieses Manöver aufgebracht wurde.

Alles nur damit sie zuschauen konnten wie ich, rot im Gesicht, es mit einer großen Portion Papiertücher aufhob und in den Mühleimer schmiss.

Seitdem stecke ich meine Hand nur mit Vorsicht in Taschen. Ich denke ich hatte Glück dass ich kein Junge war, wie Nate. Er wurde regelmäßig zusammengeschlagen.

Während er einmal tatsächlich eine gebrochene Nase einfing (‚ich bin die Treppe runtergefallen‘), war für mich das Schlimmste nur ein Eintauchen in die Kloschüssel.

Trotz all dem wurde ich, nachdem ich meine Angst überwunden hatte, zu einer dieser Personen. Nach der High School hatte ich zwei enge Freunde und ein Kaninchen.

Habe ich immer noch, bis ich auf den Asphalt pralle, oder auf eins der Autos, die darauf geparkt sind, blau oder rot oder grün.

Und ja, es war schwierig, sie loszulassen, vor allem Peanut, mein Kaninchen. Am Schluss dachte ich mir dann, dass egal wie sehr ich ihn liebte, es ihm wahrscheinlich eigentlich egal war, wer ihn fütterte.

Es ist eigentlich schon komisch. Es gab Zeiten, da war ich kurz davor es zu tun – in der Badewanne liegend, ein Glas Wein und eine Rasierklinge auf dem Klodeckel platziert – und ich sagte mir, dass ich für meine Freunde nur eine Last gewesen wäre, dass es uns im Großen und Ganzen so allen besser gehen würde.

Aber ich konnte mich kein Mal ganz davon überzeugen. Das verrückte daran ist, dass ich jetzt weiß, dass ich keine Last für sie war. Und hier bin ich nun, irgendwo zwischen dem 109. Stock und dem Boden, nahe Endgeschwindigkeit.

Ich würde die ganze Geschichte erzählen, mit all den Details, aber das braucht Zeit, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich schon fast bei der Hälfte bin und sich meine Wahrnehmung jede Sekunde wieder der Realität anpassen könnte; nein, ich werde keine Details erörtern.

Es gab zwei von ihnen, Nate und Tina. Nate ist umgezogen – er hatte immer Schwierigkeiten, wie ich, und dann schaffte er es plötzlich in so ein besonderes Traineeprogramm zu gelangen, und schon war er weg, mit mehr als dreitausend Meilen zwischen uns.

Ich mach mir gerne vor, dass wir wegen der großen geografischen Distanz auseinander gegangen sind, aber eigentlich weiß ich, dass wir uns nie wirklich sehr nahe standen.

Ich war das Beste an seiner schlechten Situation, und sobald er aus dieser Situation hinausgekommen war, naja, warum sollte er sich dann noch um mich kümmern?

Wir haben uns in der High School kennengelernt, als wir beide unter dem gleichen Teenagerwahnsinn litten, und ich denke wir sind irgendwie aneinander hängen geblieben.

Das ist eigentlich eine Untertreibung. Wir haben damals fast jeden Abend gechattet. Uns nach der Schule getroffen. Als wir mit der High School fertig waren, haben wir uns oft an den Abenden getroffen und einfach abgehängt.

Ich glaubte ihm, will ich damit sagen. Ich glaubte er wäre mein Freund. In dem Moment, in dem er eine Öffnung sah, hat er sich davongemacht, und das war’s dann halt.

Tina stand ihm näher als mir. Er hat sie mir vor zwei Jahren vorgestellt; wir haben allen möglichen Mist angestellt.

Um eine lange Geschichte kurzufassen: sie hat aufgehört auf meine Nachrichten zu antworten, nachdem Nate gegangen war. Wie es halt so it. Sie wird sich aber um Peanut kümmern.

Sie hatte immer eine Schwäche für den kleinen, mit seinen Schlappohren, seinem zuckenden Näschen, all die typischen Kanincheneigenschaften. Außerdem wird sie Schuldgefühle kriegen wenn sie erfährt, dass ich mich freiwillig mit dem Gehsteig vereint habe.

Ich bin allerdings nicht so naiv, dass ich glaube, dass mein großer Ausbruch irgendetwas verändern wird. Ich will nicht, dass meine alten Freunde darunter leiden, und sie werden es auch nicht tun, wie ich es bereits klar gemacht habe.

Die Menschen unten sind jetzt mehr als nur kleine Punkte. Wegen dem Wind muss ich fast so schnell blinken wie ich falle, aber ich sie sehen, individuelle Einheiten, die sich bewegen.

Als ich früher hierherkam (es müsste mindestens ein halbes dutzend Mal passiert sein), hatte ich immer Angst, dass ich auf halbem Weg meine Meinung ändern würde, dass ich den Terror und die Reue des Wissens, dass ich das alles mir selbst zu verdanken hätte, und nichts dagegen tun könnte, spüren würde.

Tatsächlich bin ich ein bisschen traurig: warum sollte ich diejenige sein, die aussteigen muss? Warum nicht alle Anderen loswerden?

Warum dürfen die Pfarrer Dans leben, die Psychokinder, die den Kopf eines zwölfjährigen Mädchens in eine Kloschüssel drücken und alle die feinen Herren in Anzügen, die denken dass das Land wie ihre Traummodele funktioniert?

Ich hätte es ihnen gerne gezeigt, mich so zu sagen mit einem Knall verabschiedet. Aber das würde nur noch mehr Misere verbreiten, und das wollen wir doch nicht, oder?

Ich wünschte, ich könnte alle wissen lassen, wie ich mich jetzt fülle, umhüllt von Wind und Lärm – mittlerweile so laut –, wie scharf mein Bild der Fußgänger geworden ist, blond, braunhaarig, es gibt nicht viel mehr zu erkennen als ihre Haarfarbe.

Was ich jetzt grad mache, es ändert mein Leben auf die extremste mögliche Art. Aber es wird sie nicht berühren, nicht im Großen und Ganzen. Die Lebenden leben weiter, kein totes Mädchen kann das verhindern.

Ich will es erzählen, alles, jedes Wort; ich will dass die Welt mich hört, ich will nochmal mit Peanut eine Gurke teilen, vielleicht kann ich doch bei Nate anrufen, vielleicht –