The Purloined Letter

Der entwendete Brief

×

Nil sapientiae odiosus acumine nimio (Seneca) - Nichts ist der Weisheit verhasster als zu viel Scharfsinn

Es war in Paris, nach Einbruch der Dunkelheit, an einem stürmischen Herbstabend im Jahr 18.., als ich in den doppelten Genuss der Meditation und einer Meerschaumpfeife kam,

zusammen mit meinem Freund, C. Auguste Dupin, in seinem kleinen Bibliotheks- oder Studierzimmer im dritten Stock in der Rue Dunôt 33, Faubourg, St. Germain.

Wir waren seit mindestens einer Stunde in tiefes Schweigen versunken, wobei jeder zufälliger Beobachter geglaubt hätte, dass wir uns einzig und allein mit den welligen Rauchwolken beschäftigten, die sich im ganzen Zimmer verbreiteten.

Ich ging in Gedanken noch einige Themen durch, die den Stoff einer Unterhaltung zu einem früheren Zeitpunkt des Abends gebildet hatten;

ich meine die Angelegenheit in der Rue Morgue und den geheimnisvollen Mord an Marie Rogêt.

Es schien mir daher ein sonderbarer Zufall zu sein, als die Tür unseres Zimmers aufgerissen wurde und unser alter Bekannter, Herr G., der Polizeipräfekt von Paris, eintrat.

Wir begrüßten ihn herzlich; denn der Mann hatte annähernd doppelt so viele unterhaltsame wie verachtenswerte Eigenschaften und wir hatten ihn seit Jahren nicht gesehen.

Wir waren im Dunkeln gesessen und Dupin stand nun auf, um eine Lampe anzuzünden, setzte sich jedoch wieder und unterließ es,

als G. sagte, dass er gekommen sei, um uns um Rat zu fragen, oder vielmehr um die Meinung meines Freundes über ein Amtsgeschäft zu erfahren, das großen Ärger gemacht hatte.

„Wenn die Sache Nachdenken erfordert“, bemerkte Dupin, und er hielt mit dem Anzünden des Dochtes inne, „sollten wir sie besser im Dunkeln durchgehen.“

„Wieder eine Ihrer sonderbaren Ansichten“, sagte der Präfekt, der die Gewohnheit hatte, alles, das über sein Verständnis hinausging, als „sonderbar“ zu bezeichnen, und der demnach inmitten einer regelrechten Legion von „Sonderbarkeiten“ lebte.

„Sehr richtig“, sagte Dupin, während er seinem Besucher eine Pfeife reichte und ihm einen bequemen Sessel zuschob.

„Und wo liegt nun das Problem?“, fragte ich. „Ich hoffe, nicht wieder eine Mordangelegenheit?“

„Oh nein, nichts dergleichen. Tatsache ist, dass die Angelegenheit sehr einfach ist, und ich nicht daran zweifle, dass wir auch gut alleine mit ihr fertig werden;

aber dann dachte ich, dass sich Dupin für die Details interessieren würde, weil die Sache wirklich überaus sonderbar ist.“

„Einfach und sonderbar“, sagte Dupin.

„Aber ja; und auch wieder nicht. Tatsache ist, dass wir alle sehr verwirrt waren, weil die Angelegenheit so einfach ist, während sie uns alle dennoch vor ein Rätsel stellt.“

„Vielleicht ist es gerade die Einfachheit der Sache, die Sie in die Irre führt“, sagte mein Freund.

„Was für einen Unsinn Sie da reden!“, antwortete der Präfekt lachend.

„Vielleicht ist das Geheimnis ein wenig zu leicht zu durchschauen“, sagte Dupin.

„Um Himmels Willen, wer hat schon jemals so etwas gehört?“

„Etwas zu durchsichtig.“

„Ha! Ha! Ha!—Ha! Ha! Ha!—Ho! Ho! Ho!“, brüllte unser Gast, aufs Tiefste belustigt. „Oh, Dupin, Sie werden mich noch ins Grab bringen!“

„Und um welche Angelegenheit geht es nun eigentlich?“, fragte ich.

„Nun, ich werde es Ihnen erzählen“, antwortete der Präfekt, während er langsam, gleichmäßig und nachdenklich Rauch ausblies und sich in den Sessel setzte. „Ich werde es Ihnen in wenigen Worten sagen;

aber bevor ich anfange, muß ich Sie warnen, dass diese Angelegenheit die größte Diskretion erfordert und dass ich wahrscheinlich meinen derzeitigen Posten verlieren werde, wenn herauskommen sollte, dass ich sie jemanden anvertraut habe.“

„Fahren Sie fort“, sagte ich.

„Oder auch nicht“, sagte Dupin.

„Nun denn; ich habe persönlich von einer sehr hohen Stelle die Information erhalten, dass ein gewisses Dokument von höchster Wichtigkeit aus den königlichen Gemächern entwendet wurde.

Die Person, die es entwendet hat, ist bekannt; dies steht ausser Zweifel; sie wurde dabei gesehen, wie sie den Diebstahl beging.

Es ist auch bekannt, dass sich das Dokument noch in ihrem Besitz befindet.“

„Woher weiß man das?“, fragte Dupin.

„Es ergibt sich eindeutig aus der Natur des Dokuments“, antwortete der Präfekt, „sowie daraus, dass gewisse Folgen noch nicht eingetreten sind, die sofort eintreten würden, wenn das Dokument aus den Händen des Diebes gelangen würde

—das heißt, wenn er es zu dem Zweck verwenden würde, zu dem er es letztlich gestohlen haben muss.“

„Werden Sie ein wenig deutlicher“, sagte ich.

„Nun, ich kann so weit gehen, zu sagen, dass das Papier seinem Besitzer eine gewisse Macht an einer gewissen Stelle verleiht, wo eine derartige Macht von ungeheurem Wert ist.“

Der Präfekt liebte es, sich diplomatisch auszudrücken.

„Ich verstehe noch immer nicht recht“, sagte Dupin.

„Nicht? Nun, wenn das Dokument einer dritten Person, deren Namen ich nicht erwähnen will, bekannt würde, wäre die Ehre einer sehr hochrangigen Person in Frage gestellt;

und dieser Umstand verleiht dem Inhaber des Dokuments eine Überlegenheit über die erlauchte Person, deren Ehre und Friede dadurch gefährdet wären.“

„Aber diese Überlegenheit“, warf ich ein, „würde von der die Kenntnis des Diebes darüber, dass der Bestohlene Kenntnis vom Dieb hat, abhängen. Aber wer würde wagen—“

„Der Dieb“, sagte G., „ist Minister D., der alles wagt, ob es eines Mannes würdig ist oder nicht. Das Vorgehen des Diebes war ebenso raffiniert wie gewagt.

Das besagte Dokument—offen gesagt, ein Brief—erlangte die bestohlene Person, als sie sich allein im königlichen Boudoir aufhielt.

Während sie ihn las, wurde sie plötzlich durch den Eintritt der anderen erlauchten Persönlichkeit gestört, ausgerechnet der Person, vor der sie ihn verbergen wollte.

Nach einem eiligen und vergeblichen Versuch, den Brief in einer Schublade zu verstecken, war sie gezwungen, ihn offen, wie er war, auf einen Tisch zu legen.

Die Adresse war jedoch an oberster Stelle und so blieb der Brief, dessen Inhalt nicht sichtbar war, unbemerkt.

In diesem Augenblick trat Minister D. ein. Sein Luchsauge bemerkt sofort das Papier, erkennt die Handschrift der Adresse, beobachtet die Verwirrung der adressierten Person und durchschaut ihr Geheimnis.

Nach einigen geschäftlichen Erledigungen, die er in gewohnter Art schnell durchführt, holt er einen Brief heraus, der dem in Frage stehenden sehr ähnlich sieht, öffnet ihn, täuscht vor, ihn zu lesen und legt ihn dann dicht neben dem anderen ab.

Er spricht erneut für etwa fünfzehn Minuten über die öffentlichen Angelegenheiten.

Schließlich nimmt er, während er sich verabschiedet, jenen Brief vom Tisch, der ihm nicht gehörte.

Sein rechtmäßiger Besitzer sah es zwar, wagte es aber natürlich nicht, in Gegenwart der dritten Person, die dicht neben ihm stand, darauf aufmerksam zu machen.

Der Minister brach auf und ließ seinen eigenen—völlig unbedeutenden—Brief auf dem Tisch liegen.“

„Hier haben Sie nun“, sagte Dupin zu mir, „was es zur Überlegenheit bedarf—die Kenntnis des Diebes darüber, dass der Bestohlene Kenntnis vom Dieb hat.“

„Ja“, antwortete der Präfekt, „und die derart erlangte Macht wurde schon seit einigen Monaten in gefährlichem Umfang zu politischen Zwecken verwendet.

Die bestohlene Person erkennt die Notwendigkeit, den Brief zurückzuerlangen, von Tag zu Tag deutlicher. Aber dies kann selbstverständlich nicht offen geschehen.

Schließlich hat sie die Angelegenheit in ihrer Verzweiflung mir übertragen.“

„Einen scharfsinnigeren Vermittler hätte man sich, denke ich, nicht wünschen oder vorstellen können“, sagte Dupin, inmitten einer perfekten Rauchwolke.

„Sie schmeicheln mir“, erwiderte der Präfekt; „aber es ist möglich, dass eine solche Meinung tatsächlich besteht.“

„Wie Sie bemerkt haben, ist klar“, sagte ich, „dass der Brief immer noch im Besitz des Ministers ist; zumal es gerade dieser Besitz und nicht etwa der Einsatz des Briefes ist, der ihm die Macht verleiht.

Mit dem Einsatz geht die Macht verloren.“

„Richtig“; sagte G.; „und von dieser Überzeugung ging ich aus.

Meine erste Besorgung war es, das Haus des Ministers gründlich zu durchsuchen; und hierbei bestand mein größtes Problem darin, dass es ohne seine Kenntnis geschehen musste.

Ich wurde insbesondere vor der Gefahr gewarnt, die besteht, wenn er einen Grund hätte, unseren Plan zu erahnen.“

„Aber“, sagte ich, „Sie sind ziemlich vertraut mit solchen Nachforschungen. Die Pariser Polizei hat so etwas schon oft getan.“

„Oh ja, und aus diesem Grund habe ich mir keine Sorgen gemacht. Die Gewohnheiten des Ministers boten mir ebenfalls einen großen Vorteil.

Er ist regelmäßig die ganze Nacht nicht zu Hause. Seine Diener sind nicht gerade zahlreich.

Sie schlafen in einiger Entfernung zum Gemach ihres Herrn und man kann sie, überwiegend Neapolitaner, leicht betrunken machen.

Wie Sie wissen, habe ich Schlüssel, mit denen ich jedes Zimmer oder Kabinett in Paris öffnen kann.

Seit drei Monaten ist nicht eine Nacht vergangen, während der ich nicht damit beschäftigt war, persönlich das Haus des D. zu durchsuchen.

Es geht um meine Ehre und, ganz im Geheimen, die Belohnung ist beträchtlich.

Daher habe ich die Suche nicht aufgegeben, bis ich der vollen Überzeugung war, dass der Dieb gerissener ist als ich.

Ich denke, ich habe sämtliche Ecken und Winkel durchsucht, in denen es möglich wäre, das Papier zu verstecken.“

„Aber ist es nicht möglich“, deutete ich an, „dass der Minister, obgleich er zweifellos noch im Besitz des Briefes ist, ihn vielleicht anderswo als in seinem eigenen Haus versteckt hat?“

„Das ist kaum möglich“, sagte Dupin. „Die gegenwärtige spezielle Lage der Angelegenheiten bei Hofe und insbesondere jener Intrigen, in die D. bekanntermaßen verwickelt ist,

machen die sofortige Verfügbarkeit des Dokuments—seine Möglichkeit, es jederzeit vorzuweisen—zu einem nahezu ebenso wichtigen Punkt, wie den Besitz desselben.“

„Die Möglichkeit, es vorzuweisen?“, sagte ich.

„Beziehungsweise, es zu vernichten“, meinte Dupin.

„Richtig“, stellte ich fest, „das Papier ist demnach bestimmt im Haus. Dass der Minister es bei sich trägt, dürfte wohl außer Frage stehen.“

„Vollständig“, sagte der Präfekt. „Ihm wurde zweimal aufgelauert, scheinbar von Straßenräubern, und er wurde vor meinen Augen gründlich durchsucht.“

„Diesen Aufwand hätten Sie sich sparen können“, sagte Dupin. „D. ist, so denke ich, nicht unbedingt ein Narr; und wenn nicht, muss er diese Überfälle selbstverständlich vorhergesehen haben.“

„Nicht unbedingt ein Narr“, entgegnete G.; „aber er ist ein Dichter, und damit meiner Meinung nach nicht weit von einem Narren entfernt.“

„Freilich“, sagte Dupin, nach einem langen und nachdenklichen Zug aus seiner Meerschaumpfeife, „obgleich ich selbst auch schon manchen Knittervers verbrochen habe.“

„Wie wäre es“, sagte ich, „wenn Sie uns die Details Ihrer Nachforschungen beschreiben.“

„Nun, Tatsache ist, dass wir uns Zeit nahmen und überall suchten. Ich habe langjährige Erfahrung mit solchen Angelegenheiten.

Ich nahm mir das ganze Gebäude vor, Zimmer für Zimmer; und widmete jedem einzelnen davon die Nächte einer ganzen Woche.

Zuerst durchsuchten wir die Möbel in jedem Raum.

Wir öffneten jede Schublade; und ich vermute, Sie wissen, dass es für einen gut geschulten Polizisten so etwas wie ein ‚Geheimfach‘ nicht gibt.

Ein Mann, dem bei einer solchen Durchsuchung ein ‚Geheimfach‘ entgeht, ist ein Tölpel.

Die Sache ist so einfach. In jedem Schrank gibt es einen gewissen Umfang—an Raum—der in Betracht zu ziehen ist.

Dann haben wir genaue Regeln. Nicht der fünfzigste Teil eines Hinweises könnte uns entgehen.

Nach den Schränken nahmen wir uns die Sessel vor.

Wir durchsuchten die Polster mit den dünnen langen Nadeln, deren Anwendung Sie bei mir schon gesehen haben.

Wir entfernten auch die Platten von den Tischen.“

„Wieso das?“

„Eine Person, die einen Gegenstand verbergen will, entfernt manchmal die Platte eines Tisches oder ähnlich gestalteten Möbelstückes;

danach wird das Bein ausgehöhlt, der Gegenstand im Loch platziert und die Platte wieder aufgesetzt. Auf diese Art werden auch die Ober- und Unterseiten von Bettpfosten genutzt.“

„Aber könnte man das Loch nicht auch am Klang entdecken?“, fragte ich.

„Keineswegs, wenn man den Gegenstand beim Hineinlegen mit ausreichend Watte umwickelt hat.

Außerdem mussten wir in unserem Fall geräuschlos vorgehen.“

„Aber Sie konnten doch nicht alle—Sie konnten doch unmöglich alle Möbelstücke auseinander genommen haben, in denen man möglicherweise etwas auf die erwähnte Art versteckt haben konnte.

Ein Brief kann zu einer dünnen Rolle zusammengerollt werden, die sich in Form und Umfang kaum von einer Stricknadel unterscheidet, und in dieser Form könnte man ihn beispielsweise in einer Stuhlleiste unterbringen.

Sie haben doch nicht etwa alle Stühle zerlegt?“

„Natürlich nicht; aber wir haben es noch besser gemacht—wir haben die Leisten aller Stühle im Haus und sogar die Verbindungsteile aller Arten von Möbel mit Hilfe eines extrem leistungsstarken Mikroskops untersucht.

Wenn es Spuren einer kürzlich vorgenommenen Veränderung gegeben hätte, hätten wir diese gewiss sofort entdeckt.

Ein einzelnes Körnchen Sägemehl beispielsweise wäre so offensichtlich gewesen wie ein Apfel.

Jede Unregelmäßigkeit an den Leimstellen—jedes ungewöhnliche Klaffen im Gefüge—hätte zur sicheren Entdeckung gereicht.“

„Ich nehme an, dass Sie auch die Spiegel, zwischen den Brettern und Platten, untersucht und dass Sie Betten und Bettzeug, sowie Vorhänge und Teppiche gründlich überprüft haben.“

„Selbstverständlich; und als wir mit absolut jedem Teil des Mobiliars auf diese Art fertig waren, untersuchten wir das Haus selbst.

Wir unterteilten die gesamte Fläche in Abschnitte, die wir nummerierten, sodass keiner übersehen werden konnte;

danach durchforschten wir jeden einzelnen Quadratzentimeter des Hauses, einschließlich der beiden Nachbarhäuser, wie zuvor mit dem Mikroskop.“

„Die beiden Nachbarhäuser!“, rief ich aus. „Da mussten Sie viel Arbeit gehabt haben.“

„Die hatten wir, aber die ausgesetzte Belohnung ist außerordentlich.“

„Sie haben sich auch die Außenanlagen der Häuser vorgenommen?“

„Alle Anlagen sind mit Ziegeln gepflastert. Sie machten uns vergleichsweise wenig Mühe.

Wir untersuchten das Moos zwischen den Steinen und fanden es unberührt vor.“

„Sie suchten auch in D.s Papieren und in den Büchern seiner Bibliothek?“

„Natürlich; wir öffneten jedes Bündel und jedes Päckchen;

wir öffneten nicht nur jedes Buch, sondern wir drehten jedes einzelne Blatt in jedem Band um und begnügten uns dabei nicht mit einem einfachen Schütteln, wie es einige Polizeibeamte zu tun pflegen.

Wir maßen auch die Dicke jedes Buchdeckels auf das genaueste ab und unterwarfen sie alle der genauesten Untersuchung mit dem Mikroskop.

Wenn einer der Einbände unlängst bearbeitet worden wäre, hätte das unseren Untersuchungen unmöglich entgehen können.

Die Länge von fünf oder sechs Bänden, die gerade vom Buchbinder gekommen waren, überprüften wir sorgfältig mit den Nadeln.“

„Sie haben die Fußböden unter den Teppichen untersucht?“

„Zweifelsohne. Wir entfernten jeden Teppich und prüften die Dielen mit dem Mikroskop.“

„Und die Tapeten an den Wänden?“

„Ja.“

„Sie suchten in den Kellern?“

„Das taten wir.“

„Dann“, sagte ich, „müssen Sie sich verschätzt haben und der Brief befindet sich nicht im Haus, wie sie vermuteten.“

„Ich fürchte, da haben Sie recht“, sagte der Präfekt. „Und nun, Dupin, was würden Sie mir raten, zu tun?“

„Das Haus nochmal gründlich zu durchsuchen.“

„Das ist absolut nicht notwendig“, entgegnete G. „So wahr ich hier stehe, ist der Brief nicht in diesem Haus.“

„Ich habe keinen besseren Rat für Sie“, sagte Dupin. „Sie haben selbstverständlich eine genaue Beschreibung des Briefes?“

„Oh, ja!“ Da holte der Präfekt ein Notizbuch hervor und las eine genaue Beschreibung der inneren und insbesondere der äußeren Beschaffenheit des vermissten Dokuments vor.

Bald nachdem er mit der Beschreibung fertig war, verabschiedete er sich, niedergeschlagener als ich diesen Mann je zuvor gesehen habe.

Etwa einen Monat danach besuchte er uns wieder und fand uns beinahe genauso vor, wie beim letzten Mal.

Er nahm eine Pfeife und einen Stuhl und begann eine beiläufige Unterhaltung.

Schließlich sagte ich: „Nun, G., was wurde aus dem gestohlenen Brief? Ich nehme an, dass Sie sich letztendlich davon überzeugen konnten, dass sich der Minister nicht übervorteilen lässt?“

„Verdammt—ja; ich habe die Durchsuchung wiederholt, wie Dupin vorgeschlagen hatte—aber es war alles vergebene Mühe, wie ich bereits vermutet hatte.“

„Wie hoch war die Belohnung, sagten Sie?“, fragte Dupin.

„Nun, sehr hoch—eine sehr großzügige Belohnung—ich möchte nicht genau sagen, wie hoch;

aber eines werde ich Ihnen sagen: dass ich demjenigen, der mir diesen Brief aushändigt, gerne einen persönlichen Scheck über fünfzigtausend Francs ausstellen würde.

Tatsache ist, dass die Sache von Tag zu Tag dringlicher wird; und die Belohnung wurde kürzlich verdoppelt.

Aber selbst wenn sie verdreifacht würde, könnte ich nicht mehr tun, als ich bereits getan habe.“

„Nun ja“, sagte Dupin affektiert, zwischen den Zügen aus seiner Meerschaumpfeife, „ich—denke wirklich, G., dass Sie in dieser Sache noch nicht—Ihr Äußerstes gegeben haben. Ich denke, Sie könnten—noch etwas mehr unternehmen, nicht wahr?“

„Wie?—Wie soll ich das tun?“

„Nun“—paff, paff—„Sie könnten“—paff, paff—„in der Angelegenheit einen Berater hinzuziehen, nicht wahr?“—paff, paff—„Erinnern Sie sich an die Geschichte, die man sich über Abernethy erzählt?“

„Nein; zum Henker mit Abernethy!“

„Natürlich! Zum Henker mit ihm, fürwahr. Aber eines Tages kam ein gewisser Geizkragen auf die Idee, einen medizinischen Rat von diesem Abernethy zu erschleichen.

Zu diesem Zweck nahm er in einer Privatgesellschaft eine gewöhnliche Unterhaltung auf, während der er dem Arzt seinen Fall als jenen einer imaginären Person andeutete.

‚Nehmen wir an‘, sagte der Geizkragen, ‚seine Symptome wären diese und jene, was würden Sie ihm raten, zu nehmen?‘

‚Nehmen!‘, sagte Abernethy, ‚Nun, er sollte ärztlichen Rat annehmen, selbstverständlich.‘“

„Aber“, sagte der Präfekt, ein wenig aus der Fassung, „ich würde gerne einen Rat annehmen und für diesen auch bezahlen.

Ich würde wirklich jedem, der mir in dieser Angelegenheit Hilfe gewährt, fünfzigtausend Francs zahlen.“

„In diesem Fall“, antwortete Dupin, während er eine Schublade öffnete und ein Scheckbuch herausholte, „dürfen Sie mir einen Scheck über den genannten Betrag ausfüllen.

Wenn Sie ihn unterzeichnet haben, werde ich Ihnen den Brief aushändigen.“

Ich war verblüfft.

Der Präfekt schien wie vom Blitz getroffen.

Er blieb einige Minuten sprachlos und unbeweglich und sah meinen Freund ungläubig mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen an;

dann, als er sich gewissermaßen erholt hatte, ergriff er eine Feder und nach einigen Pausen und starren Blicken füllte er schließlich den Scheck über fünfzigtausend Francs aus, unterzeichnete ihn und reichte ihn über dem Tisch an Dupin.

Dieser prüfte ihn sorgfältig und legte ihn in seine Brieftasche; dann schloss er einen Schreibtisch auf, nahm einen Brief heraus und überreichte ihn dem Präfekten.

Der Beamte ergriff ihn in quälender Freude, öffnet ihn mit zitternder Hand, warf einen schnellen Blick auf den Inhalt

und stürzte taumelnd zur Tür, er eilte ohne Abschiedsworte aus dem Zimmer und aus dem Haus, er hatte kein einziges Wort mehr gesprochen, seit Dupin ihn aufgefordert hatte, den Scheck auszufüllen.

Als er gegangen war, gab mir mein Freund einige Erklärungen.

„Die Pariser Polizei“, sagte er, „ist auf ihre Art außerordentlich gewandt.

Sie ist ausdauernd, scharfsinnig, clever und hat durchaus gute Kenntnisse auf jenen Gebieten, für die sie in erster Linie beansprucht wird.

Als uns G. ausführlich beschrieb, wie er die Durchsuchung der Räumlichkeiten im Haus des D. vorgenommen hatte, war ich voll und ganz überzeugt, dass er gewissenhafte Ermittlungen getätigt hatte—so weit seine Mühen reichten.“

„So weit seine Mühen reichten?“, fragte ich.

„Ja“, antwortete Dupin. „Die angewandten Maßnahmen waren nicht nur die besten ihrer Art, sondern sie wurden auch in absoluter Perfektion ausgeführt.

Wäre der Brief innerhalb ihres Suchbereichs versteckt gewesen, hätten die Kollegen ihn zweifellos gefunden.“

Ich lachte nur—aber er schien ziemlich ernsthaft mit allem, was er sagte.

„Die Maßnahmen“, fuhr er fort, „waren damals ihrer Art und Ausführung nach gut; ihr Fehler bestand darin, dass sie auf diesen Fall und diesen Mann nicht anwendbar waren.

Eine gewisse Reihe raffinierter Hilfsmittel sind für den Präfekt eine Art Prokrustesbett, in das er seine Pläne gewaltsam hineinzwängt.

Aber er macht fortwährend den Fehler, den betreffenden Fall zu tiefsinnig oder zu oberflächlich zu behandeln und mancher Schuljunge ist ein besserer Denker als er.

Ich kannte einen Achtjährigen, dessen Erfolge beim Ratespiel ‚gerade oder ungerade‘ allgemeine Bewunderung an sich zogen.

Dies ist ein einfaches Spiel, das mit Murmeln gespielt wird.

Ein Spieler hält eine Anzahl dieser Murmeln in seiner Hand und fragt einen anderen, ob diese Anzahl gerade oder ungerade ist.

Wenn er richtig rät, gewinnt der Ratende eine Murmel; wenn er falsch liegt, verliert er eine.

Der Junge, von dem ich spreche, gewann alle Murmeln der gesamten Schule.

Natürlich hatte er ein System beim Raten; und dieses bestand im bloßen Beobachten und der Berechnung des Scharfsinnes seiner Gegner.

Wenn sein Gegner beispielsweise ein richtiger Dummkopf ist und mit hochgehaltener, geschlossener Hand fragt: „Sind sie gerade oder ungerade?“, antwortet unser Schuljunge „Gerade“, und verliert;

aber beim zweiten Versuch gewinnt er, denn er sagt sich:

‚Der Dummkopf hatte beim ersten Versuch eine gerade Zahl in der Hand und sein Scharfsinn reicht gerade so weit, beim zweiten Versuch eine ungerade Zahl zu wählen;

ich werde also ungerade raten‘; er wählt ungerade und gewinnt.

Nun, bei einem etwas schlaueren Dummkopf als dem ersten hätte er folgenden Schluss gezogen:

‚Der Junge hat gehört, dass ich beim ersten Versuch ungerade geraten habe,

und beim zweiten Versuch wird er sich nach erster Eingebung vornehmen, eine einfache Änderung von gerade auf ungerade vorzunehmen, wie es der erste Dummkopf getan hatte;

aber dann wird ihm ein zweiter Gedanke nahelegen, dass diese Änderung zu einfach ist und schließlich wird er sich entscheiden, wie zuvor gerade zu wählen. Ich muss also gerade raten‘; er rät gerade und gewinnt.

Worin liegt nun letztlich die logische Methode des Schuljungen, den seine Kameraden ‚Glückspilz‘ nannten?“

„Sie liegt lediglich darin“, sagte ich, „dass sich der logisch Denkende mit dem Intellekt seines Gegners identifiziert.“

„So ist es“, meinte Dupin; „und als ich den Jungen fragte, wie er diese vollkommene Identifizierung anstelle, in der sein Erfolg besteht, erhielt ich folgende Antwort:

‚Wenn ich herausfinden will, wie klug oder wie dumm, wie gut oder wie böse jemand ist, oder was er gerade denkt,

mime ich so gut wie möglich seinen Gesichtsausdruck nach

und warte dann ab, welche Gedanken oder Gefühle in meinem Kopf oder Herzen aufsteigen, die mit dem Ausdruck übereinstimmen.‘

Diese Antwort des Schuljungen bildet die Grundlage der zweifelhaften Weisheit, die man Rochefoucault, La Bougive, Machiavelli und Campanella zugeschrieben hat.“

„Und die Identifizierung“, sagte ich, „des Verstandes des logisch Denkenden mit jenem seines Gegners hängt, wenn ich Sie richtig verstehe, von der Genauigkeit ab, mit der der Verstand des Gegners abgeschätzt wird.“

„Ja, davon hängt der praktischer Wert ab“, antwortete Dupin;

„und der Präfekt und seine Kollegen irren so häufig, weil sie es erstens nicht schaffen, sich derart zu identifizieren, und weil sie zweitens den Verstand, mit dem sie zu tun haben, entweder falsch oder gar nicht einschätzen.

Sie ziehen nur ihre eigenen Vorstellungen von Scharfsinn in Betracht; und wenn Sie etwas Verborgenes suchen, denken sie nur an die Arten, auf die sie selbst die Sache versteckt haben würden.

Sie haben soweit recht—dass ihr eigener Scharfsinn jenem der großen Masse entspricht;

aber wenn die Gerissenheit des einzelnen Verbrechers sich der Art nach von ihrer eigenen unterscheidet, macht ihnen der Kerl natürlich einen Strich durch die Rechnung.

Dies geschieht immer dann, wenn der Gegner überlegen ist, und sehr häufig, wenn er unterlegen ist.

Sie variieren die Prinzipien ihrer Ermittlungen nicht;

wenn sie durch außergewöhnliche Umstände dazu gezwungen werden—etwa durch eine besonders hohe Belohnung—erweitern oder übertreiben sie allenfalls ihre alte Arbeitsweise, aber ohne ihre Prinzipien zu ändern.

Was wurde beispielsweise in diesem Fall von D. getan, um das Handlungsprinzip zu ändern?

Was ist all das Bohren, Durchsuchen, Klopfen und mikroskopische Untersuchen, sowie das Unterteilen der Gebäudefläche in nummerierte Quadratzentimeter—

was ist all das als eine Übertreibung der Anwendung des einen Prinzips oder einer Reihe an Prinzipien zur Durchsuchung,

die auf dem einzigen Begriff von menschlichem Scharfsinn gründen, an den sich der Präfekt während seiner langen geschäftlichen Routine gewöhnt hat?

Sieht man nicht, dass er es als selbstverständlich angenommen hat, dass alle Menschen, wenn sie einen Brief verstecken wollen, diesen, wenn nicht gerade in einem ausgehöhlten Stuhlbein, dann zumindest

in irgendeinem verborgenen Loch oder Winkel legen würden, und dass dies demselben Gedankengang folgt, der einen Menschen dazu veranlasst, einen Brief in einem ausgehöhlten Stuhlbein zu verstecken?

Und sieht man nicht auch, dass derart ausgefallene Verstecke nur in einfachen Fällen geeignet sind und nur von Menschen mit durchschnittlichem Verstand verwendet werden;

denn immer, wenn es darum geht, etwas zu verbergen, kann man vermutlich voraussetzen, dass der verborgene Gegenstand zunächst auf derart ausgefallene Art deponiert wird;

und daher hängt seine Entdeckung keineswegs vom Scharfsinn, sondern vielmehr vom Zusammenspiel aus Sorgfalt, Geduld und Ausdauer der Suchenden ab;

und wenn der Fall von Bedeutung ist—oder wenn die Belohnung außerordentlich hoch ist—haben die genannten Eigenschaften bekanntermaßen noch nie versagt.

Sie werden nun verstehen, was ich meinte, als ich die Vermutung äußerte, dass, wenn der entwendete Brief im Bereich der Untersuchung des Präfekten versteckt worden wäre

—mit anderen Worten, wenn das Prinzip des Versteckes von den Prinzipien des Präfekten umfasst wäre—dieser zweifelsfrei gefunden worden wäre.

Der Beamte wurde jedoch gründlich getäuscht; und die ferne Ursache seiner Niederlage liegt in der Annahme, dass der Minister ein Narr sei, weil er den Ruf eines Dichters hat.

Alle Narren sind Dichter; dies ist das Gefühl des Präfekten; und er macht sich eines non distributio medii schuldig, wenn er daraus schließt, dass alle Dichter Narren wären.“

„Aber ist dieser wirklich der Dichter?“, fragte ich. „Es gibt zwei Brüder, wie ich weiß; und beide haben einen Ruf als Schriftsteller.

Ich glaube, der Minister hat eine gelehrte Abhandlung über die Differentialrechnung geschrieben. Er ist Mathematiker und kein Dichter.“

„Sie liegen falsch; ich kenne ihn gut; er ist beides.

Als Dichter und Mathematiker kann er logisch denken; als bloßer Mathematiker hätte er überhaupt nicht schlussfolgern können und wäre somit dem Präfekten ausgeliefert gewesen.“

„Sie überraschen mich“, sagte ich, „mit dieser Meinung, die im Gegensatz zur Überzeugung der restlichen Welt steht.

Sie wollen doch nicht eine seit Jahrhunderten wohl überlegte Idee in den Wind schlagen.

Die mathematische Vernunft wird seit langem als die Vernunft schlechthin angesehen.“

„‚Man kann wetten‘“, antwortete Dupin und zitierte dabei Chamfort, „‚dass jede öffentliche Meinung, jede allgemeine Konvention eine Dummheit ist, denn sie hat der großen Menge gefallen.‘

Ich gebe zu, dass die Mathematiker ihr Bestes getan haben, um den allgemeinen Irrtum, auf den Sie anspielen, zu verbreiten, der nichtsdestoweniger ein Irrtum ist, obgleich er als Wahrheit verbreitet wurde.

Sie haben beispielsweise mit einer Kunstfertigkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre, den Begriff ‚Analyse’ in die Algebra eingebracht.

Die Franzosen sind die Urheber dieser besonderen Täuschung;

aber wenn ein Begriff von Bedeutung ist—wenn Worte einen Wert aus ihrer Anwendung ableiten—

dann entspricht ‚Analyse‘ ebenso ‚Algebra‘ wie im Lateinischen ‚ambitus‘ ‚Ehrgeiz‘, ‚religio‘ ‚Religion‘ oder ‚homines honesti‘ eine Reihe ehrenhafter Männer bedeutet.“

„Ich verstehe“, sagte ich, „Sie haben einen Disput mit einigen Pariser Algebraikern; aber fahren Sie fort.“

„Ich bestreite die Nutzbarkeit und somit den Wert dieser Vernunft, die in jeder anderen Form als der abstrakt logischen gepflegt wird.

Insbesondere bestreite ich die Ratio, die aus mathematischen Studien abgeleitet wurde.

Mathematik ist die Lehre von Form und Größe; mathematische Schlussfolgerung ist lediglich die auf die Beobachtung von Form und Größe angewandte Logik.

Der große Irrtum liegt in der Annahme, dass sogar die Wahrheiten der sogenannten reinen Algebra abstrakte oder allgemeine Wahrheiten seien.

Und dieser Irrtum ist so ungeheuer, dass mich die Allgemeinheit verblüfft, mit der man ihm verfallen ist.

Mathematische Axiome sind keine Axiome von allgemeiner Wahrheit. Was im Verhältnis—von Form und Größe—wahr ist, ist of gänzlich falsch, beispielsweise in moralischer Hinsicht.

In dieser Wissenschaft ist es sehr oft unwahr, dass die Summe der Teile dem Ganzen entspricht.

In der Chemie scheitert das Axiom ebenfalls.

Wenn man Bewegung betrachtet, scheitert es; denn zwei Bewegungen, die jeweils einen gegebenen Wert haben, haben gemeinsam nicht notwendigerweise denselben Wert, als wenn man ihre getrennten Werte addiert.

Es gibt noch zahlreiche andere mathematische Wahrheiten, die nur innerhalb der relativen Grenzen Wahrheiten sind.

Aber der Mathematiker argumentiert gewohnheitsmäßig aus seinen begrenzten Wahrheiten, als ob sie absolut allgemein anwendbar wären—wie die Welt dies tatsächlich annimmt.

Bryant erwähnt in seiner fachkundigen ‚Mythologie‘ eine ähnliche Quelle des Irrtums, indem er sagt:

‚obwohl man nicht an die heidnischen Fabeln glaubt, vermisst man sich doch fortwährend und zieht Schlüsse aus ihnen, als wären sie bestehende Wirklichkeiten‘.

Die Algebraiker, die selbst Heiden sind, glauben an die ‚heidnischen Fabeln‘ und ziehen ihre Schlüsse weniger aus Gedächtnislücken als vielmehr aus einer unerklärlichen Geistesverwirrung.

Kurz gesagt, ich habe noch nie einen bloßen Mathematiker getroffen, dem man abgesehen von gleichen Nullstellen glauben konnte,

oder einen, der es nicht heimlich für eine Glaubenssache gehalten hätte, dass x quadriert + px unbedingt und bedingungslos gleich q sei.

Wenn Sie wollen, sagen Sie versuchsweise zu einem dieser Herren, dass Sie Fälle für möglich halten, in denen x quadriert + px nicht gleich q wäre,

und wenn derjenige versteht, was Sie meinen, verschwinden Sie so schnell wie möglich, weil er zweifellos versuchen wird, Sie niederzuschlagen.“

„Ich will damit sagen“, setzte Dupin fort, während ich über seine letzten Bemerkungen lediglich lachte,

„dass der Präfekt es nicht nötig gehabt hätte, mir diesen Scheck auszustellen, wenn der Minister lediglich ein Mathematiker gewesen wäre.

Ich kannte ihn allerdings als Mathematiker und Dichter und passte meine Maßregeln seinen Fähigkeiten an, unter Berücksichtigung seiner Umstände.

Ich kannte ihn auch als Hofmann und als kühnen Intriganten. Ein solcher Mann, folgerte ich, ist mit der üblichen Arbeitsweise der Polizei vertraut.

Er musste—und die Ereignisse haben es bewiesen—die ihn treffenden Überfälle vorausahnen.

Er musste auch, so dachte ich, die heimlichen Untersuchungen seines Hauses vorausgesehen haben.

Seine regelmäßige nächtliche Abwesenheit vom Haus, über die sich der Präfekt als gewisse Hilfestellung für seinen Erfolg freute, hielt ich nur für eine List,

um der Polizei die Möglichkeit einer gründlichen Durchsuchung zu gewähren und sie somit möglichst früh zur Überzeugung des G.—zu der er schließlich auch gelangte—zu bringen, dass sich der Brief nicht im Haus befindet.

Ich glaubte auch, dass der ganze Gedankengang, den ich bestrebt war, Ihnen soeben genau zu beschreiben, hinsichtlich des unveränderlichen Prinzips der Polizeiarbeit bei der Suche nach verborgenen Gegenständen—

ich glaubte, dass dieser ganze Gedankengang notwendigerweise auch dem Minister durch den Kopf gehen würde.

Das würde ihn zwingend dazu führen, alle gewöhnlichen Versteckmöglichkeiten zu verwerfen.

Er konnte nicht so schwach sein, überlegte ich, nicht zu sehen,

dass der ausgefallenste, verborgenste Winkel seines Hauses für die Augen, die Sonden, die Bohrer und Mikroskope des Präfekten ebenso offen stehen würde wie seine öffentlichsten Kammern.

Ich erkannte schließlich, dass er selbstverständlich zu den einfachsten Möglichkeiten gezwungen wäre, wenn er diese Wahl nicht schon freiwillig getroffen hätte.

Sie werden sich vielleicht erinnern, wie verzweifelt der Präfekt gelacht hat,

als ich bei unserer ersten Unterredung bemerkte, dass ihn dieses Geheimnis vielleicht nur deshalb solche Schwierigkeiten bereitete, weil es so augenscheinlich sei.“

„Ja“, sagte ich, „ich erinnere mich gut an seine Belustigung. Ich dachte wirklich, er würde Krämpfe erleiden.“

„Die materielle Welt“, fuhr Dupin fort, „hat exakte Analogien zur immateriellen;

und es besteht ein Anschein von Wahrheit im rhetorischen Dogma, dass eine Metapher oder ein Gleichnis sowohl gemacht werden kann, um ein Argument zu bekräftigen, als auch, um eine Beschreibung zu verschönen.

Das Prinzip der Vis inertiae scheint beispielsweise in der Physik und in der Metaphysik identisch zu sein.

Es ist in ersterer nicht richtiger, dass ein großer Körper schwerer in Bewegung zu setzen ist als ein kleiner und dass die daraus folgende Bewegung im Verhältnis zu dieser Schwierigkeit steht,

als es in zweiter ist, dass ein großer Intellekt fester, beständiger und ereignisreicher an Regungen als einer von geringerem Grad ist, der weniger leicht zu bewegen

und aber in den ersten Schritten seines Fortschritts verlegener und zaghaft ist.

Übrigens: haben Sie jemals bemerkt, auf welche Art die Schilder über Ladentüren die meiste Aufmerksamkeit auf sich lenken?“

„Darüber habe ich nie nachgedacht“, sagte ich.

„Es gibt ein Ratespiel“, fuhr er fort, „das auf einer Landkarte gespielt wird.

Ein Spieler fordert den anderen auf, ein bestimmtes Wort zu finden—den Namen einer Stadt, eines Flusses, eines Staates oder Reiches—kurz gesagt, ein beliebiges Wort auf der bunten und wirren Oberfläche der Karte.

Ein Anfänger in diesem Spiel versucht, seine Gegner dadurch zu verwirren, dass er ihnen die am kleinsten geschriebenen Namen zu suchen gibt;

der Fortgeschrittene hingegen wählt Worte, die sich in großen Buchstaben vom einen Ende der Karte zum anderen ziehen.

Diese entgehen, ebenso wie die übergroßen Aufschriften auf Schildern und Plakaten auf der Straße, leicht der Beobachtung, weil sie so übermäßig groß ins Auge fallen;

und dieses physische Übersehen ist genau analog zur moralischen Nichterfassung, bei der der Verstand jene Anzeichen nicht beachtet, die zu aufdringlich und zu offensichtlich sind.

Aber dies ist ein Punkt, der für das Verständnis des Präfekten scheinbar zu hoch oder zu niedrig ist.

Er hielt es kein einziges Mal für wahrscheinlich oder für möglich, dass der Minister den Brief unmittelbar der ganzen Welt vor die Nase gelegt hätte, um auf diese Weise die Welt davon abzuhalten, ihn zu entdecken.

Doch je mehr ich über den kühnen, wagemutigen und kritischen Verstand des D. nachdachte; sowie über die Tatsache, dass er das Dokument immer bei der Hand haben musste, wenn er es verwerten wollte;

und über den vom Präfekten erbrachten eindeutigen Beweis, dass er nicht im Bereich der gewöhnlichen Durchsuchung des Würdenträgers versteckt war

—desto überzeugter wurde ich, dass der Minister, um den Brief zu verstecken, zum weiten und weisen Mittel gegriffen hatte, überhaupt nicht zu versuchen, ihn zu verstecken.

Von diesen Gedanken ganz erfüllt, versah ich mich mit einer grünen Brille und besuchte eines schönen Morgens wie zufällig das Haus des Ministers.

Ich fand D. zu Hause vor, er gähnte, faulenzte und trödelte wie gewöhnlich und tat, als langweilte er sich zu Tode.

Er ist vielleicht der tatkräftigste Mensch auf der Welt—aber nur dann, wenn ihn niemand sieht.

Um es ihm gleichzutun, klagte ich über meine schwachen Augen und über die Notwendigkeit, eine Brille tragen zu müssen, unter deren Deckung ich vorsichtig und gründlich das Zimmer inspizierte,

während ich mich dem Anschein nach ausschließlich der Unterhaltung mit meinem Gastgeber widmete.

Besondere Aufmerksamkeit schenkte ich einem großen Schreibtisch, an dem er saß und auf dem verschiedene Briefe und andere Papiere wirr umherlagen, ebenso wie ein oder zwei Musikinstrumente und ein paar Bücher.

Nach langer und sorgfältiger Prüfung konnte ich allerdings nichts finden, das einen besonderen Verdacht begründet hätte.

Nach einiger Zeit fiel mein im Zimmer schweifender Blick auf einen billigen, filigranen Kartenhalter aus Pappe, der an einem schmutzigen blauen Band von einem kleinen Messingknopf über dem Kaminsims herabhing.

In diesem Kartenhalter, der drei oder vier Unterteilungen hatte, befanden sich fünf oder sechs Visitenkarten und ein einzelner Brief. Dieser war sehr schmutzig und zerknittert.

Er war in der Mitte beinahe durchgerissen—als hätte man zunächst die Absicht gehabt, ihn als wertlos zu zerreissen, und es sich dann aber anders überlegt.

Er hatte ein großes schwarzes Siegel mit der deutlich erkennbaren Chiffre D. und war in zierlicher Damenhandschrift an den Minister selbst adressiert.

Er war nachlässig, ja geradezu verächtlich, in eines der obersten Abteile des Halters gesteckt worden.

Kaum hatte ich diesen Brief erblickt, wusste ich, dass es derjenige war, nach dem ich suchte.

Er unterschied sich zwar dem Anschein nach sehr von demjenigen, dessen genaue Beschreibung uns der Präfekt vorgelesen hatte.

Hier war das Siegel groß und schwarz, mit der Chiffre D.; dort war es klein und rot, mit dem herzoglichen Wappen der Familie S.

Hier lautete die Adresse an den Minister, klein und feminin; dort war die Überschrift an eine königliche Person, groß und entschlossen; allein die Größe stimmte überein.

Aber mithin war es gerade die Auffälligkeit dieser Unterschiede, die übertrieben schien; der Schmutz, der zerknitterte und zerrissene Zustand des Papiers, der so sehr im Widerspruch zu den systematischen Angewohnheiten des D. stand,

und das mit einer derart deutlichen Absicht, dem Betrachter die Wertlosigkeit des Dokuments vorzutäuschen;

all diese Dinge, zusammen mit der exponierten Lage des Dokuments, das jedem Besucher ins Auge fiel, und das exakt zu den Schlüssen passte, die ich zuvor gezogen hatte;

diese Dinge, sage ich, bekräftigten nachhaltig den Verdacht bei jemandem, der gekommen war, um Verdachtsmomente zu finden.

Ich dehnte meinen Besuch so lange wie möglich aus und während ich den Minister in eine eifrige Diskussion über ein Thema verwickelte, das ihn, wie ich wusste, stets interessierte,

wandte ich meine ganze Aufmerksamkeit dem Brief zu.

Bei dieser Untersuchung prägte ich mir seine äußere Erscheinung und seine Lage im Halter ein; schließlich machte ich eine Entdeckung, die mir noch den kleinsten allfälligen Zweifel nahm.

Als ich die Ränder des Papiers musterte, stellte ich fest, dass diese abgeriebener waren, als notwendig schien.

Sie sahen aus, als wenn man steifes Papier, das zusammengefaltet und mit einem Falzbein gepresst worden war, wieder geöffnet und in umgekehrter Richtung an derselben Stelle in der entstandenen Falte erneut gefaltet hätte.

Diese Entdeckung genügte. Mir war klar, dass man den Brief wie einen Handschuh umgedreht, umadressiert und erneut versiegelt hatte.

Ich wünschte dem Minister einen guten Tag und entfernte mich umgehend, ließ dabei aber eine goldene Schnupftabakdose auf dem Tisch zurück.

Am nächsten Morgen holte ich die Tabakdose ab und wir setzten recht angeregt die Unterhaltung des letzten Tages fort.

Während wir mit der Diskussion beschäftigt waren, war plötzlich unmittelbar unter den Fenstern des Hauses ein lauter Schuss zu hören, wie von einer Pistole, gefolgt von ängstlichem Geschrei und den Rufen einer erregten Menge.

D. eilte an ein Fenster, warf es auf und sah hinaus.

Inzwischen schritt ich zum Kartenhalter, nahm den Brief, steckte ihn in meine Tasche und ersetzte ihn durch ein Faksimile (was seine Äußerlichkeiten angeht),

das ich zu Hause sorgfältig vorbereitet hatte; die Chiffre D. konnte ich leicht mit einem aus Brot geformten Siegel nachahmen.

Die Unruhe auf der Straße wurde durch das verrückte Benehmen eines Mannes mit einer Flinte verursacht.

Er hatte sie in eine Menge von Frauen und Kindern abgefeuert.

Es stellte sich jedoch heraus, dass die Waffe nicht geladen war und man ließ den Kerl als Verrückten oder Betrunkenen laufen.

Als er fort war, kehrte D. vom Fenster zurück, zu dem ich ihm sofort gefolgt war, nachdem ich mein angestrebtes Objekt gesichert hatte.

Kurz darauf verabschiedete ich mich. Der vermeintlich Verrückte war ein von mir bezahlter Mann.“

„Aber welche Absicht hatten Sie damit“, fragte ich, „den Brief durch ein Faksimile zu ersetzen.

Wäre es nicht besser gewesen, ihn gleich beim ersten Besuch offen zu ergreifen und zu davonzugehen?“

„D.“, antwortete Dupin, „ist ein zum Äußersten entschlossener und nervenstarker Mann.

Zudem ist sein Haus niemals ohne Dienerschaft, die seinen Interessen blind ergeben ist.

Hätte ich den verwegenen Versuch gemacht, den Sie vorschlagen, hätte ich das Haus des Ministers vielleicht nicht lebend verlassen.

Die guten Pariser hätte nie wieder etwas von mir gehört.

Aber abgesehen von diesen Bedenken hatte ich noch ein anderes Ziel.

Sie kennen meine politische Einstellung.

In dieser Angelegenheit handle ich als Anhänger der betreffenden hohen Dame.

Der Minister hatte sie achtzehn Monate in seiner Gewalt.

Nun hat sie ihn in ihrer; denn da er nicht weiß, dass der Brief nicht mehr in seinem Besitz ist, wird er weiterhin Forderungen stellen, als besitze er ihn noch.

Auf diese Weise wird er sich selbst seinen politischen Sturz bereiten.

Sein Niedergang wird überdies ebenso plötzlich wie peinlich sein.

Man mag über das facilis descensus Averni so viel reden, wie man will; aber bei jedem Emporkommen gilt, wie es die Catalani über das Singen sagten, dass es leichter ist hinauf, als hinunter zu kommen.

Im vorliegenden Fall habe ich kein Mitgefühl—zumindest kein Erbarmen—mit dem Fallenden.

Er ist das Monstrum Horrendum, ein Mann mit Genius aber ohne Grundsätzen.

Ich gestehe allerdings, dass ich sehr gern seine Gedanken lesen würde,

wenn er, weil die vom Präfekt als ‚eine gewisse Person‘ Bezeichnete sich ihm widersetzt, genötigt ist, den Brief zu öffnen, den ich für ihn in den Kartenhalter gesteckt habe.“

„Wieso? Haben Sie etwas bestimmtes hineingeschrieben?“

„Nun — es schien mir nicht recht zu sein, die Innenseite unbeschrieben zu lassen — das wäre beleidigend gewesen.

D. spielte mir einst in Wien übel mit und ich versprach, etwas scherzhaft, dass ich das nicht vergessen würde.

Da ich also wusste, dass er recht neugierig auf die Identität der Person sein werde, die ihn überlistet hatte, hielt ich es für schade, ihm keinen Hinweis zu geben.

Er kennt meine Handschrift recht gut und so schrieb ich mitten auf das weiße Blatt die Worte ab—

—‚Un dessein si funeste, S'il n'est digne d'Atrée, est digne de Thyeste.‘ (‚Eine böse Absicht ist nicht des Artreus würdig, sie ist aber des Thyestes würdig.‘)

Sie befinden sich in Crébillons ‚Atrée‘.“