The Murders in the Rue Morgue

Der Doppelmord in der Rue Morgue

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Was für ein Lied die Sirenen sangen oder unter welchem Namen Achilles sich unter den Frauen versteckte, das sind zwar verblüffende Fragen – deren Lösung jedoch nicht außerhalb des Möglichen liegt.

—Sir Thomas Browne.

Die eigentümlichen geistigen Eigenschaften, die man analytisch nennt, sind ihrer Natur nach der Analyse schwer zugänglich.

Wir würdigen sie nur nach ihren Wirkungen.

Was wir unter Anderem von ihnen wissen, das ist, dass sie demjenigen, der sie in ungewöhnlich hohem Grade besitzt, eine Quelle höchster Genüsse sind.

Wie der starke Mann sich seiner körperlichen Kraft erfreut und besonderes Vergnügen an Übungen findet, die seine Muskeln in Bewegung versetzen,

so erfreut sich der Analytiker jener geistigen Aktivität, die das Verworrene zu lösen vermag.

Auch die trivialsten Beschäftigungen haben für ihn einen Reiz, sobald sie ihm nur Gelegenheit geben, sein Talent zu entfalten.

Er liebt Rätsel, Wortspiele, Hieroglyphen; er entwickelt bei ihrer Lösung einen Scharfsinn, der den mit dem Durchschnittsverstand begabten Menschen unnatürlich erscheint.

Obwohl seine Resultate nur das Produkt einer geschickt angewandten Methode sind, machen sie den Eindruck einer Intuition.

Das Auflösungsvermögen wird möglicherweise noch bedeutend durch mathematische Studien erhöht,

und zwar insbesondere durch das Studium jenes höchsten Zweiges der Mathematik, den man zu Unrecht und wohl nur wegen seiner rückwärts wirkenden Operationen vorzugsweise Analyse nannte.

Indessen heißt rechnen noch nicht analysieren.

Ein Schachspieler zum Beispiel tut das eine, ohne sich um das andere zu kümmern.

Daraus folgt, dass man das Schachspiel in seiner Wirkung auf den Geist meistens ganz falsch beurteilt.

Ich beabsichtige nicht, eine gelehrte Abhandlung zu schreiben, sondern will nur eine sehr eigentümliche Geschichte durch einige mir in den Sinn kommende Bemerkungen einleiten;

jedenfalls aber möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um die Behauptung aufzustellen,

dass die höheren Kräfte des denkenden Geistes durch das bescheidene Damespiel viel nutzbringender und lebhafter angeregt werden

als durch die mühe- und anspruchsvollen Nichtigkeiten des Schachspiels.

Bei letzterem Spiel, in dem die Figuren verschiedene wunderliche Bewegungen von ebenso verschiedenem, veränderlichem Wert ausführen können,

wird etwas, was nur sehr kompliziert ist, irrtümlicherweise (ein geläufiges Missverständnis) für etwas Scharfsinniges gehalten.

Hierbei wird vor allem die Aufmerksamkeit stark in Anspruch genommen.

Wenn sie auch nur einen Augenblick nachlässt, übersieht man leicht etwas, was zu Verlust oder Niederlage führt.

Da die möglichen Züge zahlreich, aber von ungleichem Wert sind, ist es natürlich leicht möglich, Einiges zu übersehen;

und in neun von zehn Fällen ist es der konzentriertere Spieler, der gewinnt, und nicht der geschicktere.

Im Damespiel hingegen, wo es nur eine Art von Zügen mit wenigen Veränderungen gibt, ist die Wahrscheinlichkeit eines Versehens geringer,

und die Aufmerksamkeit wird relativ wenig in Anspruch genommen, wobei die Vorteile, die ein Partner über den andern erringt, seinem größeren Scharfsinn zu verdanken sind.

Um es weniger abstrakt zu sagen - stellen wir uns ein Damespiel vor, in dem die Steine auf vier Damen reduziert sind und in dem kein Versehen mehr zu erwarten ist.

Es ist klar (wenn die Spieler gleich stark sind), dass der Sieg hier nur durch einen außerordentlich geschickten Zug entschieden werden kann, der das Resultat einer ungewöhnlichen Geistesanstrengung ist.

Wenn sich der Analytiker seiner gewöhnlichen Hilfsquellen beraubt sieht, denkt er sich in den Geist seines Gegners hinein, identifiziert sich mit ihm,

und dadurch gelingt es ihm nicht selten, auf den ersten Blick eine (oft verblüffend einfache) Methode zu finden, durch die er den andern irreführen oder zu einem unbesonnenen Zug veranlassen kann.

Das Spiel Whist ist schon lange für seinen Einfluss auf das sogenannte Berechnungsvermögen bekannt;

und die intelligentesten Männer fanden bekanntermaßen ein ganz besonderes Vergnügen an diesem Spiel, während sie das Schachspiel als kleinlich verschmähten.

Es gibt zweifellos kein anderes Spiel, das die analytischen Fähigkeiten in so hohem Grade beansprucht.

Der beste Schachspieler der Christenheit ist vielleicht nicht mehr als eben nur der beste Schachspieler;

die Gewandtheit im Whist lässt aber auf einen feinen Kopf schließen, der sich überall, wo Geist gegen Geist kämpft, des Erfolges sicher sein kann.

Wenn ich hier von Gewandtheit spreche, meine ich damit die vollkommene Beherrschung des Spieles, die alle Eventualitäten erkennt, aus denen sich ein rechtmäßiger Vorteil ziehen lässt.

Es gibt viele und sehr verschiedenartige solcher Möglichkeiten, die sich meistens nur einer höheren Intelligenz erschließen und für Menschen von gewöhnlicher Begabung unzugänglich sind.

Aufmerksam beobachten heißt, sich gewisser Dinge deutlich erinnern können; und insofern wird sich der Schachspieler, der an die Konzentration seiner Gedanken gewöhnt ist, sehr gut im Whist schlagen;

vorausgesetzt, dass er die Spielregeln des Hoyle (die auf dem eigentlichen Mechanismus des Spieles basieren) gut innehat.

Daher glaubt man üblicherweise, ein gutes Gedächtnis zu haben und regelrecht "nach dem Buche" spielen zu können, sei alles, was zu einem guten Spiel erforderlich ist.

Aber die Kunst des Analytikers bewährt sich in solchen Dingen, die außerhalb der Grenzen aller Regeln liegen.

In aller Stille macht er Beobachtungen und zieht Schlüsse.

Seine Mitspieler tun wahrscheinlich dasselbe; der Unterschied des erlangten Wissens liegt weniger an der Richtigkeit des Schlusses als im Wert der Beobachtung.

Das Wichtigste ist, sich ganz klar darüber zu sein, was man beobachten muss.

Unser Spieler hat seine Augen überall; und neben dem Spiel, das die Hauptsache ist, zieht er auch aus Dingen außerhalb des Spiels seine Schlüsse.

Er beobachtet den Gesichtsausdruck seines Partners und vergleicht ihn sorgfältig mit dem seiner Gegner.

Er achtet darauf, wie die Mitspieler ihre Karten in der Hand ordnen; oft zählt er Trumpf auf Trumpf, Honneurs auf Honneurs an den Blicken nach, mit denen ihre Besitzer sie mustern.

Er bemerkt im Verlauf des Spieles jede Veränderung ihres Gesichtsausdruckes und zieht seine Schlüsse aus jeder Geste, die Sicherheit, Überraschung, Triumph oder Ärger verrät.

Aus der Art, wie jemand einen Stich aufnimmt, schließt er, ob der Betreffende noch mehr Stiche in dieser Farbe machen kann.

Er erkennt an der Weise, wie eine Karte auf den Tisch geworfen wird, ob jemand täuscht.

Ein zufälliges unbedachtes Wort; das gelegentliche Fallenlassen oder Umwenden einer Karte, mit der Ängstlichkeit oder Gleichgültigkeit, um sie zu verbergen;

das Zählen der Stiche und die Art, sie zu ordnen; das verwirrte, zögernde, hastige oder übereifrige Wesen des Spielenden - alles muss ihm zum Erkennungszeichen dienen, das ihm den Stand der Dinge verrät.

Wenn die ersten zwei oder drei Runden gespielt sind, kennt er die Karten jeder Hand genau,

und er spielt seine eignen mit einer absoluten Sicherheit aus, als ob die übrigen Mitspielenden ihm ihre zeigten.

Man darf das Analysierungsvermögen keineswegs mit Klugheit verwechseln; denn während der Analytiker unbedingt klug sein muss, haben doch oft recht kluge Leute kein Talent zur Analyse.

Die Kombinationsgabe, durch die sich die Klugheit gewöhnlich äußert und der die Phrenologen (wie ich glaube irrtümlich) ein besonderes Organ zugewiesen haben, da sie diese für eine angeborene Fähigkeit halten,

wurde so häufig bei Menschen wahrgenommen, deren Verstand fast an Schwachsinn grenzt, dass diese Tatsache die Aufmerksamkeit vieler Gelehrten auf sich gezogen hat.

Zwischen Klugheit und analytischer Fähigkeit besteht ein Unterschied, der größer ist als jener zwischen Phantasie und Einbildungskraft; der aber er von streng analoger Eigenschaft ist.

Man wird sogar feststellen, dass die klugen Menschen immer phantasiereich und jene mit wirklicher Einbildungskraft stets Analytiker sind.

Die folgende Erzählung möge dem Leser als Kommentar der soeben aufgestellten Behauptungen dienen.

Als ich mich im Frühling und während eines Teils des Sommers 18.. in Paris aufhielt, machte ich die Bekanntschaft eines Monsieur C. August Dupin.

Dieser junge Mann gehörte einer sehr guten - ja sogar berühmten Familie an, die jedoch durch eine Reihe von Schicksalsschlägen in so tiefe Armut geraten war,

dass die Energie seines Charakters darunter erlag, sodass er sich ganz von der Welt zurückgezogen hatte und keine Versuche mehr machte, sich in eine bessere Lage zurück zu arbeiten.

Seine Gläubiger waren so anständig gewesen, ihm einen kleinen Rest seines väterlichen Vermögens in seinem Besitz zu erlassen;

dessen Zinsen bei äußerster Sparsamkeit zu einem sehr bescheidenen Leben hinreichten, ihm jedoch auch nicht den kleinsten Luxus gestatteten.

Bücher waren sein einziger Luxus, den man sich Paris ohne große Kosten leisten kann.

Wir begegneten einander erstmals in einem obskuren Buchladen in der Rue Montmartre, wo uns der Zufall, dass wir beide dasselbe, sehr seltene und außergewöhnliche Buch suchten, in nähere Beziehung zueinander brachte.

Von da an trafen wir uns immer wieder.

Ich interessierte mich sehr für seine Familiengeschichte, die er mir mit der ganzen Aufrichtigkeit erzählte, in der der Franzose sich gefällt, wenn er über sich selbst spricht.

Sehr überrascht war ich auch von seiner ungeheuren Belesenheit; vor allem aber waren es die seltene Frische und Lebendigkeit seiner Phantasie, die mich interessierten und anregten.

Da er in Paris nach denselben Dingen suchte wie ich, fühlte ich, dass die Gesellschaft dieses Mannes für mich von unendlichem Wert sein könnte; und dieses Gefühl zeigte ich ihm auch offen.

Es wurde schließlich vereinbart, dass wir, so lange mein Aufenthalt in Paris dauern würde, zusammen wohnen wollten; und da meine Vermögensverhältnisse besser waren als seine,

konnte ich es mir erlauben, für uns auf meine Kosten ein ziemlich vernachlässigtes und wunderlich aussehendes Haus zu mieten und in einem Stil einzurichten, der dem fantastischen Schwermut unserer üblichen Stimmung entsprach;

das Haus hatte wegen irgendeines Aberglaubens, dem wir nicht weiter nachforschten, schon lange unbewohnt gestanden und lag in einem abgelegenen, einsamen Teil des Faubourg St. Germain.

Hätte die Welt gewusst, welche Lebensweise wir in diesem Häuschen führten, würde man uns wahrscheinlich für Wahnsinnige gehalten haben - wenn auch für sehr harmlose.

Unsere Abgeschiedenheit war eine vollkommene.

Wir nahmen keine Besuche an.

Ich hielt unseren Aufenthaltsort vor früheren Bekannten und Freunden absolut geheim; und Dupin hatte schon seit vielen Jahren keine Bekannten in Paris.

Wir lebten ganz für uns alleine.

Es war eine Marotte meines Freundes (denn wie anders sollte ich es nennen?), dass er in die Nacht um ihrer selbst willen verliebt war;

und wie alle seine Launen machte ich auch diese mit; und fügte mich unbekümmert seinen bizarren Marotten.

Die Göttin der Nacht wollte nicht immer freiwillig bei uns hausen; aber wir fanden Mittel und Wege, uns Ersatz für ihre Gegenwart zu schaffen.

Beim ersten Morgengrauen schlossen wir sämtliche schmutzige Fensterläden unseres alten Hauses; wir steckten ein paar stark duftende Kerzen an, die nur schwache, gespensterhafte Strahlen abgaben.

Mit ihrer Hilfe wiegten wir unsere Seelen in Träumen – wir lasen, schrieben und unterhielten uns, bis die Uhr uns den Anbruch der wirklichen Dunkelheit verkündete.

Dann eilten wir in die Straßen, wo wir Arm in Arm umherschlendernd die Gespräche des Tages fortsetzten, und oft streiften wir bis in die tiefe Nacht umher

und suchten zwischen den grellen Lichtern und tiefen Schatten der stark bewohnten Stadt jene Unendlichkeit geistiger Anregung, die durch stummes Beobachten ermöglicht wird.

Bei solchen Gelegenheiten konnte ich nicht umhin, Dupins eigenartige analytische Begabung zu bemerken und zu bewundern (obwohl ich diese aufgrund seines reichen Geistesleben schon erwartet hatte).

Er schien diese Gabe auch mit großer Freude zu trainieren - wenngleich er sie nicht zur Schau stellte - und er gestand mir offen ein, dass sie für ihn eine Quelle manchen Genusses sei.

Mit leisem Kichern rühmte er sich damit, dass für ihn die meisten Menschen Fenster in der Brust hätten,

und er unterstützte diese Behauptungen auf der Stelle durch erstaunliche Beweise für seine genaue Kenntnis meines eigenen Seelenlebens.

In solchen Augenblicken war er kalt und geistesabwesend; seine Augen waren ausdruckslos;

und seine Stimme, die sonst einen weichen Tenorklang hatte, sprang in einen hohen Sopran hinauf, der lächerlich gewirkt haben würde, hätte er nicht dabei besonders deutlich und bedächtig gesprochen.

Wenn ich ihn in solchen Stimmungen beobachtete, musste ich oft an die alte Philosophie vom Zweiseelen-System denken, und mich belustigte der Gedanke, einen doppelten Dupin vor mir zu haben –

einen schöpferischen und einen zerstörenden.

Was ich gerade gesagt habe, soll nicht bedeuten, dass ich ein Geheimnis enthüllen oder einen Roman schreiben will.

Die eben geschilderten Eigenschaften des Franzosen waren lediglich das Resultat einer überreizten, vielleicht auch krankhaften Intelligenz.

Aber ein Eindruck vom Charakter der Aussprüche, die er zu solchen Zeiten machte, lässt sich am Besten durch ein Beispiel gewinnen.

Wir schlenderten eines Abends durch eine lange schmutzige Straße in der Nähe des Palais Royal.

Da wir beide in Gedanken waren, hatte schon seit mehr als einer Viertelstunde keiner von uns gesprochen.

Plötzlich brach Dupin ganz unvermittelt in die Worte aus: „Er ist ein sehr kleiner Kerl, das ist wahr, und er würde besser ins Théâtre des Variétés passen.“

„Zweifellos“, erwiderte ich unwillkürlich, und ich bemerkte im ersten Augenblick nicht (so sehr war ich in meine Gedanken vertieft), auf welch seltsame Weise seine Worte mit meinem Gedankengang übereinstimmten.

Es fiel mir erst einen Augenblick später auf, und ich war ziemlich verblüfft.

„Dupin“, sagte ich in ernstem Ton, „das geht über mein Verständnis.

Ich zögere nicht, Ihnen zu gestehen, dass ich aufs Höchste verwundert bin und meinen Sinnen kaum trauen kann.

Wie konnten Sie nur wissen, dass ich gerade an ...?“

An dieser Stelle hielt ich inne, um mich zu überzeugen, ob er wirklich wusste, an wen ich dachte.

„ - an Chantilly denke?“, sagte er, „Warum halten Sie inne?

Sie dachten doch gerade darüber nach, dass seine kleine Gestalt ihn wirklich untauglich für Tragöden mache.“

Tatsächlich hatten sich meine Gedanken exakt damit beschäftigt.

Chantilly war ein ehemaliger Flickschuster in der Rue St. Denis, der, von einer wahren Leidenschaft für das Theater ergriffen,

an den Proben für die Rolle des Xerxes in Crébillons gleichnamiger Tragödie teilgenommen hatte, für all seine Mühe aber nur verhöhnt wurde.

„Sagen Sie mir, um des Himmels willen“, rief ich aus, „nach welcher Methode Sie vorgegangen sind – wenn es überhaupt eine Methode gibt –, um derart in meiner Seele lesen zu können!“

Ich war in der Tat noch viel verblüffter, als ich ihm zeigen wollte.

„Es war der Obsthändler“, antwortete mein Freund, „der Sie auf den Gedanken brachte, dass der Flickschuster für die Darstellung eines Xerxes und ähnlicher Rollen nicht groß genug sei.“

„Der Obsthändler! - Sie überraschen mich - Ich kenne keinen Obsthändler.“

„Der Mann, der Sie anrempelte, als wir in die Straße einbogen - es ist kaum eine Viertelstunde her.“

Nun erinnerte ich mich daran, dass mich tatsächlich ein Obsthändler, der einen großen Korb mit Äpfeln auf dem Kopf trug, versehentlich beinahe umgerannt hätte,

als wir aus der Rue C. in den Durchgang einbogen, in dem wir uns jetzt befanden;

aber was das mit Chantilly zu tun haben sollte, war mir unerklärlich.

Dupin hatte auch keine Spur von Scharlatanerie an sich.

„Ich werde es Ihnen erklären“, sagte er,

„und damit Sie alles verstehen, wollen wir zunächst den Gang Ihrer Gedanken zurückverfolgen, von dem Moment an, als ich zu Ihnen sprach, bis zu jenem, als der Obsthändler mit Ihnen zusammenlief.

Die Hauptglieder dieser Gedankenkette sind Folgende - Chantilly, Orion, Dr. Nichols, Epikur, Stereotomie, das Straßenpflaster, der Obsthändler.“

Es gibt nur wenige Personen, denen es nicht an einem gewissen Punkt im Leben Vergnügen gemacht hätte, die Schritte zurückzuverfolgen, über die ihr Geist zu gewissen Schlüssen gelangte.

Diese Beschäftigung kann sehr interessant sein und wer es zum ersten Male versucht, ist erstaunt über die scheinbar unendliche Entfernung und den fehlenden Zusammenhang zwischen Ausgangs- und Endpunkt.

Man denke sich daher mein Erstaunen über das, was der Franzose nun zu mir sagte, da ich zugeben musste, dass er die Wahrheit sprach.

Er fuhr fort: „Wenn ich mich recht erinnere, haben wir von Pferden gesprochen, ehe wir die Rue C. verließen.

Das war unser letztes Gesprächsthema.

Als wir in diese Straße hier einbogen, kam uns ein Obsthändler mit einem großen Korb auf dem Kopf entgegen,

er stieß Sie gegen einen Haufen von Pflastersteinen, die an einer Stelle, wo die Straße ausgebessert werden soll, aufgeschüttet lagen.

Sie traten auf einen lose liegenden Stein, glitten aus und zerrten sich leicht den Knöchel,

Sie schienen verärgert oder mürrisch, murmelten ein paar Worte, blickten ärgerlich auf den Steinhaufen und setzten schweigend Ihren Weg fort.

Ich achtete nicht besonders darauf, was Sie taten; doch mir ist das Beobachten in letzter Zeit zur einer Art Notwendigkeit geworden.

Sie hielten Ihren Blick zum Boden gesenkt - und betrachteten mit gereizter Miene die Löcher und Unebenheiten der Straße, (ich sah also, dass Sie noch immer an die Steine dachten)

bis wir die kleine Gasse namens Lamartine erreichten, die versuchsweise mit überlappenden, festgenagelten Holzblöcken befestigt ist.

Hier erhellte sich der Ausdruck Ihres Gesichts und als ich bemerkte, dass sich Ihre Lippen bewegten, konnte ich zweifelsfrei das Wort 'Stereotomie' erkennen, eine recht affektierte Bezeichnung für diese Art der Pflasterung.

Ich wusste, dass Sie sich 'Stereotomie' nicht vorsagen konnten, ohne danach an Atome und an die Lehre Epikurs denken zu müssen; und da ich, als wir uns unlängst über dieses Thema unterhielten,

damals erwähnte, wie seltsam und dennoch unbeachtet es sei, dass die vagen Vermutungen dieses noblen Griechen durch die neueste Nebel-Kosmogonie bestätigt wurden,

hatte ich das Gefühl, dass Sie es nicht vermeiden konnten, zum großen Nebel des Orion aufzublicken, und erwartete dies nun mit Sicherheit.

Sie taten es wirklich, und ich war nun meiner Sache sicher, dass ich Ihren Gedankengang richtig verfolgt hatte.

Aber in der abfälligen Kritik, die gestern im 'Musée' über Chantilly erschien,

machte sich der Satiriker auch über die Namensänderung lustig, die der Flickschuster bei der Übernahme der Halbstiefel vorgenommen hatte, und zitierte einen lateinischen Spruch, über den wir oft gesprochen haben.

Ich meine den Spruch 'Perdidit antiquum litera prima sonum!' (*Er hat den Klang mit dem ersten Buchstaben zerstört.*)

Ich hatte Ihnen gesagt, dass sich diese Zeile auf Orion, früher Urion genannt, bezieht; und da ich bei dieser Gelegenheit ein paar bissige Bemerkungen gemacht hatte, wusste ich, dass Sie sie nicht vergessen haben konnten.

Es war daher klar, dass Sie nicht umhin konnten, die beiden Begriffe Orion und Chantilly miteinander zu verbinden.

Dass Sie sie tatsächlich verbunden haben, sah ich an dem Lächeln, das um Ihre Lippen spielte.

Sie dachten an die Hingabe des armen Flickschusters.

Bis dahin war Ihre Haltung gebückt gewesen; nun aber sah ich, wie Sie sich plötzlich zu Ihrer vollen Höhe aufrichteten.

Da war ich sicher, dass Sie an die kleine Gestalt Chantillys dachten.

Zu dem Zeitpunkt unterbrach ich Ihren Gedankengang mit der Bemerkung, dass er wirklich ein sehr kleiner Kerl sei - dieser Chantilly - und dass er besser ins Théâtre des Variétés passen würde.“

Nicht lange danach lasen wir die Abendausgabe der „Gazette des Tribunaux“, als die folgenden Absätze unsere Aufmerksamkeit fesselten:

„AUSSERGEWÖHNLICHE MORDE.

– Heute morgen gegen drei Uhr wurden die Bewohner des Quartiers St. Roch durch eine Reihe entsetzlicher Schreie geweckt,

die anscheinend aus dem vierten Stockwerk eines Hauses der Rue Morgue drangen, das bekanntermaßen von einer gewissen Madame L'Espanaye und ihrer Tochter Mademoiselle Camille L'Espanaye allein bewohnt wurde.

Nach einiger Verzögerung, wegen eines vergeblichen Versuchs, sich auf gewöhnlichem Wege Einlass zu verschaffen,

wurde das Haustor mit einem Brecheisen geöffnet, worauf acht bis zehn Nachbarn in Begleitung zweier Gendarmen in das Haus drangen.

Das Geschrei war unterdessen verstummt; aber als die Leute die Treppen in den ersten Flur hinaufstürzten, vernahmen sie zwei oder mehr rauen Stimmen in lautem Streit, die vom oberen Teil des Hauses zu kommen schienen.

Als man den zweiten Treppenabsatz erreicht hatte, hörten auch diese Töne auf, und es blieb totenstill.

Die Leute teilten sich auf und eilten von einem Zimmer zum nächsten.

Als man ein großes Hinterzimmer im vierten Stock erreichte (dessen Tür von innen verschlossen war und aufgebrochen wurde),

bot sich ein Anblick, der alle Anwesenden gleichermaßen mit Grauen und Erstaunen erfüllte.

Im Zimmer herrschte die wildeste Unordnung - die Möbel waren zertrümmert und lagen überall umher.

Das Zimmer enthielt ein Bettgestell; und von diesem war das Bett entfernt und mitten auf den Boden geworfen worden.

Ein blutiges Rasiermesser lag auf einem Stuhl.

Auf dem Kamin lagen zwei oder drei lange dicke Strähnen grauen Menschenhaares, die ebenfalls mit Blut bespritzt waren und mit den Wurzeln ausgerissen zu sein schienen.

Über den Fußboden verstreut fand man vier Napoleons, einen Topas-Ohrring, drei große silberne Löffel, drei kleinere aus Hartzinn und zwei Beutel, die knapp viertausend Francs in Gold enthielten.

Aus einer in der Ecke stehenden Kommode waren die Laden herausgezogen und offenbar durchwühlt worden, obwohl noch viele Gegenstände darin umherlagen.

Eine kleine eiserne Kassette wurde unter den Bettkissen (nicht unter dem Bettgestell) gefunden.

Sie war offen, und der Schlüssel steckte noch im Schloss.

Sie enthielt nur einige alte Briefe und andere belanglose Papiere.

Von Madame L'Espanaye fehlte jede Spur; aber es wurde eine außergewöhnliche Menge an Ruß im Kamin gefunden, man durchsuchte den Schornstein

und zog (gräßlich, es zu sagen!) den Leichnam der Tochter, mit dem Kopf nach unten, daraus hervor; er war ziemlich hoch in die engen Schornsteinöffnung hinaufgestopft worden.

Der Körper war noch ganz warm.

Bei der Untersuchung fand man zahlreiche Hautabschürfungen, die zweifellos durch die Gewalteinwirkung verursacht worden waren, mit der der Leichnam in den Schornstein hinaufgestoßen und heruntergezogen wurde.

Auf dem Gesicht fand man viele schwere Kratzwunden und am Hals waren dunkle Blutergüsse und tiefe Abdrücke von Fingernägeln, die darauf hindeuteten, dass die Tote erdrosselt worden war.

Nachdem man jeden Winkel des Hauses gründlich durchsucht hatte, ohne etwas Weiteres zu finden, kamen die Leute in einen kleinen gepflasterten Hof hinter dem Haus an,

wo die Leiche der alten Dame lag, deren Kehle so tief eingeschnitten war, dass beim Versuch, sie aufzuheben, ihr Kopf abfiel.

Der Körper war ebenso wie der Kopf in grauenhaftester Weise verstümmelt - und besonders der Körper sah kaum noch menschenähnlich aus.

Zu diesem entsetzlichen Geheimnis gibt es bislang vermutlich nicht die geringste Spur.“

Tags darauf berichtete die Zeitung noch von folgenden weiteren Einzelheiten:

„Die Tragödie in der Rue Morgue.

Viele Personen wurden in dieser außergewöhnlichen und grauenhaften Sache bereits vernommen, doch konnte die Angelegenheit noch nicht aufgeklärt werden.

Nachfolgend geben wir die Aussagen der vernommenen Zeugen wieder.

Pauline Dubourg, Wäscherin, sagt aus, dass sie die beiden verstorbenen Damen seit drei Jahren gekannt habe, da sie während dieser Zeit die Wäsche für sie besorgte.

Die alte Dame und ihre Tochter hätten sich gut verstanden und seien stets sehr liebevoll miteinander umgegangen.

Sie bezahlten alles sofort.

Die Zeugin könne nichts dazu sagen, wie und wovon sie gelebt hatten.

Sie glaubte, dass Madame L'Espanaye von Beruf Wahrsagerin gewesen sei.

Angeblich hatte sie Geld beiseite gelegt.

Die Zeugin sei im Haus niemals jemandem begegnet, wenn sie die Wäsche geholt oder zurückgebracht habe.

Sie war sicher, dass die Damen keine Dienstboten hatten.

Es schien, dass ausschließlich der vierte Stock des Hauses möbliert gewesen sei.

Peter Moreau, Tabakhändler, sagt aus, dass er seit etwa vier Jahren regelmäßig kleine Mengen an Rauch- und Schnupftabak an Madame L'Espanaye verkauft habe.

Er sei in der Nachbarschaft geboren und habe immer hier gewohnt.

Die Verstorbene und ihre Tochter hätten schon seit mehr als sechs Jahren in dem Haus gewohnt, in dem die Leichen gefunden wurden.

Früher wurde das Haus von einem Juwelier bewohnt, der die oberen Zimmer an verschiedene Personen untervermietete;

Das Haus stand im Eigentum der Madame L.

Sie war unzufrieden mit dem Missbrauch, den der Mieter mit den Räumen trieb, und zog selbst in das Haus ein, wobei sie sich weigerte, Anteile zu vermieten.

Die alte Dame sei kindisch gewesen.

Die Tochter habe der Zeuge während der sechs Jahre etwa fünf- oder sechsmal gesehen.

Die beiden Frauen hätten ein außerordentlich zurückgezogenes Leben geführt – indessen hätten sie allgemein im Ruf gestanden, Geld zu haben.

Er hatte auch gehört, dass die Leute in der Nachbarschaft munkelten, Madame L. sei eine Wahrsagerin – er habe das aber nicht geglaubt.

Er habe nie gesehen, dass jemand anderer das Haus betreten hätte als Mutter und Tochter, ein- oder zweimal einen Dienstmann und etwa acht- oder zehnmal einen Arzt.

Noch viele andere Personen aus der Nachbarschaft bestätigten diese Aussage.

Niemand habe regelmäßig im Haus verkehrt.

Man wusste nicht einmal, ob Madame L. und ihre Tochter lebende Verwandte hatten.

Die Fensterläden der vorderen Zimmer wurden nur selten geöffnet.

Jene zum Hof waren stets geschlossen, mit Ausnahme der Läden eines großen Hinterzimmers in der vierten Etage.

Das Haus war gut gebaut - und nicht alt.

Isidor Muset, Gendarm, sagt aus, dass man ihn gegen drei Uhr morgens zu dem Haus geholt und dass er dort zwanzig bis dreißig Personen angetroffen habe, die versuchten, sich Eingang zu verschaffen.

Er habe die Tür schließlich aufgebrochen, und zwar mit einem Bajonett - nicht mit einer Eisenstange.

Es sei nicht sehr schwierig gewesen, sie zu öffnen, da es eine Flügeltür war, die weder oben noch unten verriegelt gewesen sei.

Die Schreie haben sich fortgesetzt, bis die Tür überwunden war - und plötzlich sei es still geworden.

Es schienen Schreie einer oder mehrerer Personen in größter Todesangst zu sein - sie seien laut und lang, nicht kurz und schnell gewesen.

Der Zeuge war den andern voran die Treppe hinaufgegangen.

Als er den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, hörte er zwei Stimmen, die laut und zornig miteinander stritten - die eine rau und barsch, die andere viel schriller - eine sehr seltsame Stimme.

Er konnte einige Worte der ersten Stimme verstehen, es war die eines Franzosen.

Es war jedenfalls keine Frauenstimme.

Er konnte deutlich die Worte 'sacré' und 'diable' unterscheiden.

Die schrille Stimme war die eines Ausländers.

Er war sich nicht ganz klar darüber, ob es die Stimme eines Mannes oder einer Frau gewesen sei.

Er konnte auch nicht ausmachen, was gesagt wurde, er meinte jedoch, es sei Spanisch gewesen.

Der Zeuge beschrieb den Zustand des Zimmers und der Leichen in Übereinstimmung mit unserer gestrigen Beschreibung.

Henri Duval, ein Nachbar, von Beruf Silberschmied, sagt aus, dass er einer der ersten gewesen war, die in das Haus eingetreten seien.

Im Allgemeinen bekräftigt er die Aussage von Muset.

Nachdem sie sich den Eingang erzwungen hatten, haben sie die Haustür wieder verschlossen, um die nachdrängende Menge abzuhalten, die sich trotz der späten Stunde sehr bald ansammelte.

Der Zeuge meint, die schrille Stimme sei die eines Italieners gewesen.

Es sei bestimmt nicht Französisch gewesen.

Er war nicht sicher, ob es die Stimme eines Mannes war.

Es könne auch die einer Frau gewesen sein.

Er verstehe die italienische Sprache nicht.

Daher konnte er die Worte nicht erkennen, dem Tonfall nach war er aber überzeugt, dass ein Italiener gesprochen habe.

Er habe Madame L'Espanaye und ihre Tochter gekannt.

Er habe sich oft mit beiden unterhalten.

Es sei ausgeschlossen, dass die schrille Stimme einer der beiden Verstorbenen angehört hätte.

— Odenheimer, Restaurateur.

Dieser Zeuge ist freiwillig erschienen, um sein Zeugnis abzulegen.

Er spricht kein Französisch und wurde durch einen Dolmetscher vernommen.

Er stammt aus Amsterdam.

Er kam zufällig an dem Haus vorbei, als darin die Schreie ertönten.

Sie haben mehrere - etwa zehn Minuten angedauert.

Sie waren langgezogen und laut - sehr entsetzlich und erschütternd.

Er gehört zu denen, die in das Haus eindrangen.

Er bestätigt die vorherigen Zeugenaussagen in allen Punkten bis auf einen.

Er war sicher, dass die schrille Stimme die eines Mannes - und zwar eines Franzosen gewesen sei.

Er konnte die Worte nicht verstehen.

Sie waren laut und schnell - stockend - und wurden zugleich angst- und zornerfüllt gesprochen.

Die Stimme war rau - weniger schrill als vielmehr rau.

Er würde die Stimme nicht als schrill bezeichnen.

Die barsche Stimme habe wiederholt 'sacré', 'diable' und einmal 'mon Dieu' gesagt.

Jules Mignaud, Bankier, von der Firma Mignaud & Sohn, Rue Deloraine.

Er ist der ältere Mignaud.

Madame L'Espanaye habe Vermögen gehabt.

Sie habe im Frühling des Jahres - (vor acht Jahren) ein Konto in seiner Bank eröffnet.

Sie habe regelmäßig kleine Summen eingezahlt.

Aber nie habe sie Geld abgezogen, bis drei Tage vor ihrem Tod, als sie persönlich die Summe von 4000 Francs abgehoben habe.

Diese Summe sei ihr in Gold ausbezahlt worden und ein Angestellter habe ihr das Geld nach Hause gebracht.

Adolphe Le Bon, Angestellter bei Mignaud & Sohn, sagt aus, dass er an dem betreffenden Tag gegen Mittag Madame L'Espanaye mit den in zwei Beutel verpackten 4000 Francs nach Hause begleitete.

Als die Tür geöffnet wurde, sei Mademoiselle L. erschienen und habe ihm einen der Beutel abgenommen, während die alte Dame den anderen übernommen habe.

Er habe sich dann verabschiedet und sei gegangen.

In der Straße habe er zu dieser Zeit keinen Menschen bemerkt.

Es ist eine Nebenstrasse - und sehr einsam.

William Bird, Schneider, sagt aus, dass er ebenfalls einer jener war, die in das Haus gedrungen seien.

Er ist Engländer.

Er hat zwei Jahre in Paris gelebt.

Er war einer der ersten, die die Treppe hinaufstiegen.

Er habe die streitenden Stimmen gehört.

Die barsche Stimme sei die eines Franzosen gewesen.

Er konnte einige Worten verstehen, kann sich aber nicht mehr an alle erinnern.

Er habe deutlich 'sacré' und 'mon Dieu' verstanden.

Er habe nun ein Geräusch vernommen, als ob mehrere Personen stritten – ein scharrendes, raufendes Geräusch.

Die schrille Stimme sei sehr laut gewesen - lauter als die barsche.

Er sei sicher, dass es nicht die Stimme eines Engländers gewesen sei.

Es schien die eines Deutschen zu sein.

Es könnte auch eine Frauenstimme gewesen sein.

Er verstehe kein Deutsch.

Vier der oben genannten Zeugen sagten bei erneuter Vernehmung aus, dass die Tür des Zimmers, in dem man die Leiche von Mademoiselle L. gefunden habe, bei ihrer Ankunft von innen verschlossen gewesen sei.

Alles sei ganz still gewesen – kein Stöhnen oder sonstiges Geräusch.

Als man die Tür aufgebrochen hatte, war niemand zu sehen.

Die Fenster des hinteren und vorderen Zimmers seien geschlossen und fest von innen verriegelt gewesen.

Eine Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern war zu, jedoch nicht verschlossen.

Die Tür zwischen dem vorderen Zimmer und dem Korridor war verschlossen, der Schlüssel steckte innen.

Ein kleines Zimmer an der Hausfront, im vierten Stock, am Ende des Korridors stand weit offen.

Dieses Zimmer war mit alten Betten, Koffern usw. überfüllt.

Es wurde ausgeräumt und durchsucht.

Im Haus gab es nicht den kleinsten Winkel, der nicht gründlich durchsucht wurde.

Schornsteinfeger kehrten die Schornsteine hinauf und hinunter.

Das Haus hat vier Stockwerke, mit Dachkammern (Mansarden).

Eine kleine Falltür am Dach war fest vernagelt - und war scheinbar seit Jahren nicht mehr geöffnet worden.

Über den Zeitraum zwischen dem Augenblick, als man die streitenden Stimmen vernahm, bis zu dem, als man die Zimmertür aufbrach, variieren die Aussagen der Zeugen.

Einige meinten, es seien zwei oder drei Minuten gewesen - andere behaupteten, es seien wenigstens fünf Minuten gewesen.

Es war schwer gewesen, die Tür zu öffnen.

Alfonzo Garcio, Bestatter, sagt aus, dass er in der Rue Morgue wohne.

Er ist geborener Spanier.

Er war einer der Leute, die in das Haus eindrangen.

Er ging nicht mit die Treppe hinauf.

Er sei nervenschwach und fürchtete die Folgen einer Aufregung.

Die streitenden Stimmen habe er gehört.

Die barsche Stimme sei die eines Franzosen gewesen.

Er konnte nicht verstehen, was gesagt wurde.

Die schrille Stimme sei die eines Engländers gewesen - dessen sei er sicher.

Er versteht zwar kein Englisch, urteilt aber nach der Aussprache.

Alberto Montani, Konditor, sagt aus, er sei einer der ersten gewesen, die die Treppe hinaufgeeilt wären.

Er habe die betreffenden Stimmen gehört.

Die barsche Stimme sei die eines Franzosen gewesen.

Er konnte einige Worte verstehen.

Der Sprecher schien zu debattieren.

Die Worte der schrillen Stimme konnte er nicht verstehen.

Sie habe schnell und in abgebrochenen Lauten gesprochen.

Er denkt, dass es die Stimme eines Russen gewesen sei.

Er bestätigt in den wesentlichen Punkten die Aussage der anderen Zeugen.

Er ist Italiener.

Er hat niemals mit einem geborenen Russen gesprochen.

Mehrere wieder aufgerufene Zeugen bestätigen, dass die Kamine aller Zimmer der vierten Etage viel zu eng seien, als dass ein menschliches Wesen dadurch hätte entkommen können.

Unter 'Besen' verstände man jene zylinderförmigen Kehrbesen, die Schornsteinfeger zum Reinigen der Kamine verwenden.

Man sei mit solchen Besen durch sämtliche Schornsteine des Hauses auf und nieder gefahren.

Es gibt keinen Hinterausgang, durch den jemand entkommen haben könnte, während die Gruppe die Treppe hinaufeilte.

Der Körper von Mademoiselle L'Espanaye war so fest in den Kamin hineingezwängt, dass es nur mit den vereinten Kräften von vier oder fünf Männern gelang, ihn wieder herunterzuziehen.

Paul Dumas, Arzt, sagt aus, dass man ihn bei Tagesanbruch gerufen habe, um die Leichen zu untersuchen.

Sie lagen beide auf der Matratze des Bettes in jenem Zimmer, in dem Mademoiselle L. gefunden worden war.

Am Körper der jungen Dame hatte er viele Quetschwunden und Hautabschürfungen gefunden.

Der Grund dafür war der Umstand, dass der Körper in den Schornstein hinaufgezwängt worden war.

Der Kehlkopf war massiv wund gerieben.

Unter dem Kinn befanden sich mehrere tiefe Kratzwunden, sowie eine Reihe blauer Flecken, die offenbar von einem heftigen, mit Fingern ausgeübten Druck herrührten.

Das Gesicht war angsterfüllt, bleich und die Augen waren aus ihren Höhlen hervorgequollen.

Die Zunge war teilweise durchgebissen.

Auf der Magengrube wurde eine große Quetschung entdeckt, die anscheinend vom Druck eines Knies stammte.

M. Dumas war der Meinung, dass Mademoiselle L'Espanaye von einer oder mehreren unbekannten Personen erwürgt worden sei.

Die Leiche der Mutter war ebenfalls in entsetzlicher Weise verstümmelt.

Sämtliche Knochen im rechten Bein und Arm waren mehr oder weniger zerschmettert.

Ebenso waren das linke Schienbein und die sämtlichen Rippen der linken Seite zersplittert gewesen.

Der ganze Körper war in grauenhafter Weise mit Quetschwunden und blutunterlaufenen Stellen bedeckt.

Es wäre unmöglich festzustellen, wie diese schweren Verletzungen zugefügt worden seien.

Eine schwere hölzerne Keule oder eine breite Eisenstange - ein Sessel - jeder große, schwere, stumpfe Gegenstand könnte, von den Händen eines sehr starken Mannes geschwungen, solche Folgen haben.

Eine Frau würde, egal mit welcher Waffe, niemals so wuchtige Schläge austeilen können.

Der Kopf der Toten war, als der Zeuge ihn zu Gesicht bekam, ganz vom Körper getrennt und ebenfalls vollständig zerschmettert gewesen.

Der Hals sei offenbar mit einem sehr scharfen Instrument durchschnitten worden - wahrscheinlich mit einem Rasiermesser.

Alexander Etienne, Chirurg, war gleichzeitig mit M. Dumas zur Leichenschau gerufen worden.

Er bestätigte in allen Punkten das Zeugnis und das Gutachten des M. Dumas.

Obgleich noch verschiedene andere Personen verhört wurden, ließ sich nichts Weiteres von Bedeutung feststellen.

Ein derartig geheimnisvoller Mord, dessen Einzelheiten so unerklärlich sind, wurde niemals zuvor in Paris begangen – wenn hier überhaupt ein Mord verübt wurde.

Die Polizei tappt noch völlig im Dunkeln - bei derartigen Fällen etwas sehr Ungewöhnliches.

Es sind jedenfalls noch keine Anhaltspunkte bekannt.“

In der Abendausgabe derselben Zeitung hieß es dann, dass im Quartier St. Roch noch immer die höchste Aufregung herrsche -

dass das betreffende Haus erneut auf das sorgfältigste, untersucht worden sei, dass man weitere Personen verhört habe, aber ohne das geringste Ergebnis.

In einem Nachsatz wurde mitgeteilt, dass Adolphe Le Bon festgenommen und in Haft genommen worden sei - obgleich es keine neuen belastenden Tatsachen gab, abgesehen von den bereits genannten.

Dupin schien sich außerordentlich für den Verlauf dieser Angelegenheit zu interessieren – zumindest schloss ich das aus der Art seines Benehmens, da er sich mit keinem Wort äußerte.

Erst nachdem die Zeitung die Nachricht von der Verhaftung Le Bons brachte, fragte er mich, was ich von den Morden halte.

Ich stimmte mit der Meinung von ganz Paris überein, dass es ein undurchdringliches Rätsel sei.

Ich konnte keine Möglichkeit sehen, die Spur der Mörder aufzudecken.

„Wir dürfen nicht nach den Möglichkeiten dieser oberflächlichen Untersuchung urteilen“, sagte Dupin.

„Die Pariser Polizei, die wegen ihres Scharfsinns gerühmt wird, ist schlau, aber nichts weiter.

Ihrem Vorgehen liegt keine andere Methode zugrunde als diejenige, die ihr der Augenblick eingibt.

Sie wendet unterschiedliche Mittel an; aber diese entsprechen ihrem Zweck oft so wenig,

dass man unwillkürlich an die Anekdote von Monsieur Jourdan über seinen Schlafrock erinnert wird - um die Musik besser zu hören.

Die erzielten Resultate sind oft recht überraschend, aber sie sind wirklich nur schlichtem Fleiß und regem Handeln zu verdanken.

Wenn diese Eigenschaften nicht ausreichen, scheitern ihre Pläne.

Vidocq war beispielsweise gut im Erraten und ein Mann von großer Ausdauer.

Da aber sein Denken nicht die nötige Schulung hatte, machte er wegen der große Intensität seiner Nachforschungen häufig Fehler.

Er verlor die Übersicht dadurch, dass er die Dinge zu sehr aus der Nähe betrachtete.

Einzelne Punkte erkannte er freilich mit ungewöhnlicher Klarheit, aber dabei verlor er naturgemäß den Überblick über das Ganze.

Ein Beweis dafür, dass es möglich ist, zu tiefsinnig zu sein.

Die Wahrheit befindet sich nicht immer in einem Brunnen.

Ich glaube vielmehr, dass sie, was wichtigere Dinge betrifft, meist an der Oberfläche liegt.

Die Tiefe liegt in den Tälern, wo wir sie suchen, und nicht auf der Höhe der Berge, wo wir sie finden.

Die Art und der Ursprung dieses Irrtums wird gut in der Beobachtung der Himmelskörper versinnbildlicht.

Wenn man einen Stern flüchtig anblickt - um ihn von der Seite anzusehen, indem man ihm nur die äußeren Teile der Netzhaut zuwendet (die für schwache Lichteindrücke empfänglicher sind als die inneren),

so sieht man den Stern deutlich - und man kann seinen vollen Glanz wahrnehmen - ein Glanz, der sich trübt, je schärfer wir unseren Blick vollständig auf ihn richten.

In letzterem Falle konzentrieren sich mehrere Strahlen auf dem Auge, aber im ersteren besitzt dieses eine feinere Aufnahmefähigkeit.

Durch zu große Tiefsinnigkeit verwirren und schwächen wir unseren Geist; und es ist möglich, selbst die Venus vom Firmament schwinden zu sehen, wenn man zu lange, zu konzentriert oder zu direkt auf sie hinblickt.

Was diese Morde betrifft, wollen wir die Sache selbst näher untersuchen, ehe wir uns ein Urteil darüber bilden.

Eine Untersuchung wird uns Spaß machen“, [Ich fand diesen Ausdruck nicht glücklich gewählt, sagte aber nichts] „außerdem hat Le Bon mir einmal einen Dienst erwiesen, für den ich mich dankbar zeigen möchte.

Wir wollen den Tatort mit unseren eigenen Augen untersuchen.

Ich kenne G., den Polizeipräfekten, und ich glaube kaum, dass es mir schwerfallen wird, die nötige Erlaubnis zu erhalten.“

Er erhielt die Erlaubnis, und wir begaben uns unverzüglich zur Rue Morgue.

Es ist dies eine jener elenden Querstraßen, die die Rue Richelieu mit der Rue St. Roch verbinden.

Es war schon spät am Nachmittag, als wir unser Ziel erreichten; da dieser Stadtteil ziemlich weit von unserer Wohnung entfernt liegt.

Wir fanden das Haus sofort; es war immer noch von vielen Menschen umlagert, die mit zweckloser Neugierde von der entgegengesetzten Seite der engen Straße auf die geschlossenen Fensterläden starrten.

Es war ein gewöhnliches Pariser Haus mit einem Torweg, an dessen einer Seite ein Schiebefenster angebracht war, hinter dem sich eine Portierstube befand.

Ehe wir eintraten, gingen wir die Straße hinauf und bogen in eine kleine Gasse ein, dann bogen wir noch einmal ab und kamen so an der Rückseite des Hauses vorbei -

Dupin prüfte inzwischen nicht nur das Haus, sondern die ganze Nachbarschaft, und zwar mit einer peinlichen Aufmerksamkeit, deren Grund mir nicht recht einleuchten wollte.

Wir gingen zurück und kamen wieder vor der Front des Hauses an, wir klingelten und wurden nach Vorlage unserer Berechtigung von dem Wache haltenden Polizeibeamten eingelassen.

Wir gingen die Treppe hinauf - in das Zimmer, in dem man die Leiche von Mademoiselle L'Espanaye gefunden hatte und wo immer noch die beiden Toten lagen.

Die Unordnung des Zimmers musste, wie in solchen Fällen üblich, beibehalten werden.

Ich sah nichts anderes, als in der „Gazette des Tribunaux“ gestanden hatte.

Dupin untersuchte alles sorgfältig – auch die Leichen der Opfer.

Dann gingen wir in die anderen Zimmer und in den Hof; während uns ein Gendarm überallhin begleitete.

Die Untersuchung nahm uns bis zum Einbruch der Dunkelheit in Anspruch, dann gingen wir.

Auf unserem Heimweg trat mein Begleiter für einige Augenblicke in das Büro einer der Tageszeitungen ein.

Ich habe bereits erzählt, dass mein Freund vielfältigste Marotten hat und dass Je les ménageais: - für diesen Satz gibt es keine deutsche Wendung.

Es gefiel ihm nun, bis zum Mittag des nächsten Tages nicht mehr über das Thema der Mordtat zu sprechen.

Dann fragte er mich ganz unvermittelt, ob mir denn am Tatort nichts Absonderliches aufgefallen sei.

In der Art, wie er das Wort „Absonderliches“ betonte, lag etwas, das mich unwillkürlich schaudern ließ, ohne zu wissen, wieso.

„Nein, nichts Absonderliches“, sagte ich, „jedenfalls nichts anderes, als wir auch in der Zeitung gelesen haben.“

„Die 'Gazette'“, antwortete er, „ist, wie ich fürchte, nicht auf das ungewöhnlich Grauenhafte der Affäre eingegangen.

Aber abgesehen von den nutzlosen Meinungen in diesem Blatt.

Mir scheint, dass dieses Geheimnis für unlösbar gehalten wird, und zwar aus dem einzigen Grund, aus dem es als leicht lösbar angesehen werden sollte - ich meine wegen seiner unkonventionellen Merkmale.

Die Polizei steht ratlos und verwirrt vor einem scheinbar fehlenden Motiv - nicht für den Mord selbst - aber für die Grausamkeit des Mordes.

Ebenso ist sie ratlos, weil es scheinbar unmöglich war, die vernommenen Stimmen eines Streitgesprächs mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass oben niemand gefunden wurde, mit Ausnahme der ermordeten Mademoiselle L'Espanaye,

und dass es unmöglich war, hinauszugelangen, ohne von den hinaufeilenden Leuten bemerkt zu werden.

Die in dem Zimmer herrschende wilde Unordnung; die mit dem Kopf nach unten in den engen Schornstein hinauf gepresste Leiche; die entsetzlichen Verstümmelungen an dem Körper der alten Dame;

die eben erwähnten Überlegungen und noch einige weitere, die ich nicht zu erwähnen brauche, waren ausreichend, um die Tatkraft der Polizei zu lähmen und ihren viel gerühmten Scharfsinn irrezuführen.

Sie sind dem groben, aber häufigen Irrtum erlegen, das Ungewöhnliche mit dem Abstrusen zu verwechseln.

Aber gerade durch dieses Abweichen vom Wege des Gewöhnlichen, wenn überhaupt, kann uns der Verstand einen Anhaltspunkt für die Suche nach der Wahrheit geben.

Bei den Untersuchungen, die wir nun durchführen, sollte man sich weniger fragen 'was ist geschehen', als vielmehr 'was ist hier geschehen, was noch nie zuvor geschehen ist'.

In der Tat steht die Leichtigkeit, mit der ich dieses Rätsel lösen werde, oder schon gelöst habe, in direktem Verhältnis zur scheinbaren Unlösbarkeit, die es in den Augen der Polizei hat.“

In sprachlosem Erstaunen starrte ich ihn an.

„Ich warte in diesem Augenblick“, fuhr er fort und blickte zur Zimmertür -

„ich warte auf einen Mann, der, obwohl er diese gräßlichen Metzeleien vielleicht nicht selbst verübt hat, doch in irgendeiner Beziehung dazu stehen muss.

Am schlimmsten Anteil des begangenen Verbrechens ist er wahrscheinlich unschuldig.

Ich hoffe, dass ich in dieser Annahme richtig liege; denn ich habe meine Annahme zur Lösung des Rätsels auf diese Voraussetzung gegründet.

Ich erwarte den Mann jeden Augenblick – hier, in diesem Zimmer.

Es kann sein, dass er nicht kommt; aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird er kommen.

Sollte er kommen, so wird es unbedingt nötig sein, ihn festzuhalten.

Hier sind Pistolen; wir beide wissen damit umzugehen, wenn es die Gelegenheit erfordert.“

Ich nahm die Pistolen, fast ohne zu wissen, was ich tat, und ohne zu glauben, was ich hörte, während Dupin fortfuhr, beinahe im Selbstgespräch.

Ich habe bereits von der geistesabwesenden Art gesprochen, in die er zu gewissen Zeiten verfiel.

Seine Worte waren an mich gerichtet; aber seine Stimme hatte, obwohl er durchaus nicht laut sprach, diese gewisse Intonation, mit der man zu einer weit entfernteren Person spricht.

Seine ausdruckslosen Augen starrten nur die Wand an.

„Die von den Leuten auf der Treppe gehörten streitenden Stimmen“, sagte er, „waren nicht die Stimmen der Damen selbst, was durch die Zeugenaussagen vollständig bewiesen ist.

Dieser Umstand erübrigt die Bedenken, ob die alte Dame etwa möglicherweise zunächst ihre Tochter ermordet und danach Selbstmord begangen habe.

Ich erwähne diesen Punkt nur der Methodik willen; denn die Kräfte von Madame L'Espanaye hätten unmöglich gereicht, die Leiche ihrer Tochter in den Kaminschacht zu zwängen, in dem sie gefunden worden ist;

außerdem sind die Wunden an ihrem eigenen Körper von der Art, dass jede Möglichkeit eines Selbstmordes ausgeschlossen ist.

Die Morde wurden somit von einem Dritten begangen; und die Stimmen eben dieses Dritten waren es, die in einem heftigem Wortwechsel vernommen wurden.

Lassen Sie mich nun auf die Zeugenaussagen hinweisen - nicht auf die gesamten Aussagen zu diesen Stimmen - aber was an diesen Aussagen absonderlich war.

Ist Ihnen da etwas Absonderliches aufgefallen?“

Ich bemerkte, dass, während alle Zeugen übereinstimmend die barsche Stimme für die eines Franzosen gehalten hätten,

die Ansichten über die schrille oder, wie einer der Zeugen meinte, raue Stimme sehr weit auseinandergingen.

„So lauten die Zeugenaussagen“, sagte Dupin, „aber das ist nicht das Absonderliche der Aussage.

Sie haben nichts Besonderes bemerkt.

Dennoch gab es hier etwas zu bemerken.

Wie Sie bemerkt haben, stimmten die Aussagen aller Zeugen über die barsche Stimme vollkommen überein.

Was nun die schrille Stimme betrifft, so ist die Besonderheit - nicht, dass sie unterschiedlich sind -

sondern, dass ein Italiener, ein Engländer, ein Spanier, ein Holländer und ein Franzose bei der Beschreibung dieser Stimme von der eines Ausländers sprachen.

Jeder ist davon überzeugt, dass es nicht die Stimme eines Landsmannes gewesen sein könne.

Jeder glaubt - zwar nicht die Stimme einer Person einer Nationalität, deren Sprache er nicht versteht - aber deren Klang zu erkennen.

Der Franzose hält sie für die Stimme eines Spaniers und 'würde ein paar Worte verstanden haben, wenn er nur Spanisch gekonnt hätte'.

Der Holländer behauptet, es müsse die Stimme eines Franzosen gewesen sein; aber wir lesen, dass er, 'weil er kein Französisch könne, durch einen Dolmetscher verhört worden sei'.

Der Engländer glaubt, dass es die Stimme eines Deutschen gewesen sei, aber 'er versteht kein Deutsch'.

Der Spanier hingegen 'ist sicher', dass es die Stimme eines Engländers war, aber er 'urteilt nach dem Tonfall' weil er 'nicht Englisch spricht'.

Der Italiener glaubt, es war die Stimme eines Russen, hat jedoch 'niemals mit einem geborenen Russen gesprochen'.

Die Aussage eines zweiten Franzosen widerspricht jener des ersten, und er ist sicher, dass es die Stimme eines Italieners war; aber er versteht kein Italienisch, war aber, wie der Spanier, 'dem Tonfall nach überzeugt'.

Nun, wie außergewöhnlich muss diese Stimme wirklich gewesen sein, dass die Aussagen der Zeugen darüber so weit auseinandergehen konnten!

- dass ihr Klang den Bewohnern der fünf großen europäischen Völkergruppen nicht bekannt erschien!

Sie werden allerdings einwerfen, dass es möglicherweise die Stimme eines Asiaten - oder Afrikaners gewesen sein könne.

Es gibt weder viele Asiaten noch Afrikaner in Paris; aber ohne diese Möglichkeit zu bestreiten, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf drei Punkte leiten.

Die Stimme wird von einem der Zeugen als 'eher rau als schrill' bezeichnet.

Zwei andere behaupten, dass sie 'schnell und stockend' gewesen wäre.

Keiner der Zeugen erwähnte, dass er Worte - oder wortähnliche Laute - wahrnehmen konnte.“

„Ich weiß nicht“, fuhr Dupin fort, „welchen Eindruck meine Ausführungen bis jetzt auf Sie gemacht haben;

aber ich zögere nicht, zu sagen, dass legitime Schlussfolgerungen auch aus diesem Teil der Zeugenaussagen

- der sich auf die barschen und schrillen Stimmen bezieht - an sich hinreichend sind, einen Verdacht zu erregen, der dem gesamten weiteren Verlauf der Untersuchungen des Rätsels beeinflussen sollte.

Ich sagte 'legitime Schlussfolgerungen'; aber das gibt den Sinn nicht ausreichend wieder.

Ich will darauf hinaus, dass die Schlussfolgerungen die einzig richtigen sind und dass sich aus der einzigen Folgerung zwangsläufig eine Vermutung ergibt.

Welcher Art diese Vermutung ist, möchte ich Ihnen allerdings noch nicht sagen.

Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass sie mir wichtig genug war, um meinen Untersuchungen im Zimmer eine eindeutige Form - eine ganz bestimmte Richtung - zu geben.

Versetzen wir uns im Geist nun wieder in jenes Zimmer.

Wonach sollen wir zuerst suchen?

Nach Möglichkeiten, die die Mörder zur Flucht benutzt haben.

Ich kann zweifellos behaupten, dass wir beide nicht an übernatürliche Dinge glauben.

Madame und Mademoiselle L'Espanaye wurden nicht von Geistern getötet.

Die Täter waren materielle Wesen und sind auf materielle Weise entkommen.

Aber wie?

Glücklicherweise bleibt für unsere Schlussfolgerung nur ein Weg, und dieser muss uns zu einer endgültigen Entscheidung führen.

- Untersuchen wir der Reihe nach die möglichen Wege einer Flucht.

Es ist klar, dass die Mörder, als die Leute die Treppe hinaufeilten, in dem Zimmer, in dem Mademoiselle L'Espanaye gefunden wurde, oder zumindest im angrenzenden Zimmer gewesen sein müssen.

Wir müssen daher auch nur aus einem dieser beiden Zimmer einen Ausweg suchen.

Die Polizei hat den Fußboden, die Decken und das Mauerwerk der Wände in jede Richtung freigelegt.

Kein geheimer Ausgang konnte ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein.

Da ich aber den Augen der Polizei nicht traue, überprüfte ich alles mit meinen eigenen.

Es gab nun wirklich keine geheimen Ausgänge.

Beide Türen von den Zimmern in den Gang waren fest verschlossen, und die Schlüssel steckten innen.

Betrachten wir nun die Schornsteine.

Diese haben zwar oberhalb des Kamins mit acht bis zehn Fuß die gewöhnliche Breite, haben aber einen Umfang, durch den kaum eine große Katze hindurch könnte.

Da die Unmöglichkeit, auf den genannten Wegen zu entkommen, bewiesen ist, sind wir nun auf die Fenster beschränkt.

Durch jene des Vorderzimmers hätte unmöglich jemand fliehen können, ohne von der in der Straße versammelten Menge bemerkt zu werden.

Die Mörder müssen daher durch eines der Fenster des Hinterzimmers entkommen sein.

Nachdem wir nun derart eindeutig zu diesem Schluss gelangt sind, dürfen wir ihn, als logisch Denkende, nicht wegen scheinbarer Unmöglichkeiten verwerfen.

Wir müssen lediglich noch beweisen, dass diese 'Unmöglichkeiten' in Wirklichkeit keine sind.

Das Zimmer hat zwei Fenster.

Eines davon ist nicht durch Möbel verstellt und vollständig sichtbar.

Der untere Teil des anderen wird dem Auge durch das Kopfende eines nahe davor stehenden sperrigen Bettgestells entzogen.

Das erste Fenster wurde von innen fest verschlossen vorgefunden.

Die äußersten Bemühungen mehrerer Personen, es in die Höhe zu schieben, waren erfolglos.

Auf der linken Seite des Rahmens war ein großes Loch eingebohrt, und in diesem Loch steckte ein sehr starker, beinahe bis zum Kopf eingetriebener Nagel.

Die Untersuchung des zweiten Fensters ergab, dass dort ein ähnlicher Nagel angebracht war; und auch hier blieb der energische Versuch, das Fenster in die Höhe zu schieben, vergeblich.

Die Polizei war nun vollständig überzeugt, dass in diese Richtungen keine Entkommen möglich war.

Und daher hielt man es auch für überflüssig, die Nägel herauszuziehen und die Fenster zu öffnen.

Meine eigene Untersuchung fiel etwas sorgfältiger aus, und zwar aus dem eben angeführten Grund – ich wusste, es müsse sich hier erweisen, dass eine scheinbare Unmöglichkeit in Wirklichkeit nicht bestand.

Ich dachte also weiter – a posteriori.

Die Mörder entkamen durch eines dieser Fenster.

Da dies der Fall ist, konnten sie jedoch unmöglich die Schiebfenster von innen in der Weise versperrt haben, wie man sie vorgefunden hatte; -

die Überlegung, die wegen ihrer Deutlichkeit der Untersuchung der Polizei in dieser Richtung ein Ende bereitete.

Dennoch waren die Schiebefenster verschlossen.

Sie mussten also in der Lage sein, sich selbst zu verschließen.

Diesem Schluss konnte ich mich nicht entziehen.

Ich begab mich an das freiliegende Fenster, zog mit einiger Mühe den Nagel heraus und versuchte die Scheibe in die Höhe zu schieben.

Wie ich erwartet hatte, gelang es mir nicht.

Ich wusste nun, dass es eine verborgene Feder geben musste; und die Bestätigung meiner Vermutung überzeugte mich, dass meine Annahme jedenfalls richtig war, so mysteriös die Umstände mit den Nägel auch erscheinen mussten.

Es gelang mir nach sorgfältiger Suche, die verborgene Feder zu finden.

Ich drückte darauf, gab mich mit der Entdeckung zufrieden und unterließ es, das Fenster hinaufzuschieben.

Ich steckte den Nagel wieder ein und betrachtete ihn aufmerksam.

Wenn jemand durch dieses Fenster entflohen war, konnte er es wieder verschlossen haben, und die Feder wäre wieder eingerastet - aber der Nagel konnte nicht wieder hineingesteckt werden.

Die Schlussfolgerung war klar, und schränkte das Feld meiner Nachforschungen wieder ein.

Die Mörder mussten durch das andere Fenster entkommen sein.

Angenommen, dass die Federn bei beiden Fenstern dieselben waren, was wahrscheinlich ist, so musste es einen Unterschied zwischen den Nägeln oder zumindest bei der Art ihrer Befestigung geben.

Ich stieg auf die im Bettgestell liegenden Leinen und sah über das Kopfende des Bettes hinweg das zweite Fenster genau an.

Mit der Hand hinter das Bettgestell fassend, entdeckte ich sofort die Feder und drückte darauf, sie war, wie ich vermutet hatte, genauso konstruiert wie die andere.

Nun sah ich mir den Nagel an.

Er war so stark wie sein Gegenstück, auch augenscheinlich auf dieselbe Weise befestigt - beinahe bis zum Kopf in das Loch eingetrieben.

Sie werden sagen, dass mich diese Tatsache verwirrte; aber wenn Sie das denken, hätten sie das Wesen meiner Einleitungen missverstanden.

Um eine sportliche Redewendung zu verwenden, lag ich niemals 'falsch'.

Ich hatte die Fährte niemals verloren.

Die Glieder der Kette griffen fest ineinander.

Ich hatte das Geheimnis bis zum letzten Punkt verfolgt, - und dieser Punkt, das war der Nagel.

Wie ich bereits sagte, sah er genauso aus wie der Nagel im anderen Fenster,

aber diese Tatsache war eine absolute Nichtigkeit (die uns uns zu überzeugen scheint), wenn man sie mit der Überlegung misst, dass sich die Spur hier, an diesem Punkt verläuft.

'Es muss etwas mit dem Nagel nicht in Ordnung sein', sagte ich mir.

Ich berührte ihn; und der Kopf und etwa ein viertel Zoll des Schaftes lösten sich in meine Hand.

Der Rest des Schaftes blieb im Bohrloch stecken, in dem er abgebrochen war.

Der Bruch war ein alter (denn die Ränder waren mit Rost bedeckt) und er stammte wahrscheinlich von einem Hammerschlag, mit dem man den oberen Teil des Nagels in den unteren Fensterrahmen eingetrieben hatte.

Ich legte den Kopf des Nagels wieder sorgsam in das Loch, aus dem ich ihn genommen hatte, und er hatte nun wieder ganz den Anschein eines makellosen Nagels - von der Bruchstelle war nichts zu sehen.

Ich drückte auf die Feder und zog das Schiebfenster vorsichtig ein paar Zoll in die Höhe; der Nagelkopf, der fest im Rahmen steckte, ging mit.

Ich schloss das Fenster, und der ganze Nagel schien wieder vollständig.

So weit war also das Rätsel nun gelöst.

Der Mörder war aus dem Fenster hinter dem Bett entflohen.

Dieses war nach seiner Flucht von selbst wieder zugefallen (oder vielleicht absichtlich geschlossen) und von der Feder festgehalten worden;

und es war das Einrasten der Feder, das die Polizei mit jenem des Nagels verwechselt - und weitere Nachforschungen daher für überflüssig gehalten hatte.

Die nächste Frage ist, wie der Mörder abgestiegen ist.

Von diesem Punkt konnte ich mich überzeugen, als wir zusammen um das Haus herumgegangen waren.

Ungefähr fünfundeinhalb Fuß von dem betreffenden Fenster entfernt läuft ein Blitzableiter nach unten.

Von dieser Stange aus wäre es niemandem möglich, das Fenster zu erreichen, ganz zu schweigen davon, einzusteigen.

Ich bemerkte jedoch sofort, dass die Fensterläden des vierten Stockes von jener eigentümlichen Art sind, die die Pariser Schreiner ferrades nennen -

eine Art, die heute selten ist, die man aber bei sehr alten Häusern in Lyon und Bordeaux noch häufig findet.

Sie sehen aus wie eine gewöhnliche Tür (eine einzelne, keine Flügeltür), deren untere Hälfte aus Latten oder offenem Gitterwerk besteht - um mit den Händen leichter erfasst und gehandhabt werden zu können.

Im vorliegenden Fall sind diese Läden volle dreieinhalb Fuß breit.

Als wir sie von der Rückseite des Hauses aus betrachteten, standen sie etwa zur Hälfte offen - das heißt, sie standen im rechten Winkel von der Hauswand ab.

Wahrscheinlich hat die Polizei die Rückseite des Hauses ebenso untersucht, wie ich es getan habe;

aber wenn dies geschehen war, so ist ihr bei der Betrachtung dieser ferrades (die sie vorgenommen haben muss) deren ungewöhnliche Breite nicht aufgefallen, oder sie hat derselben jedenfalls keine Bedeutung beigelegt.

Als sie die Überzeugung gewonnen hatte, dass von dieser Stelle eine Flucht unmöglich sei, sind die hier angestellten Untersuchungen eigentlich sehr oberflächlicher Natur gewesen.

Mir war jedoch klar, dass der Laden des Fensters beim Kopfteil des Bettes, wenn er ganz zur Wand zurückgeschlagen würde, kaum zwei Fuß vom Blitzableiter entfernt sein könne.

Es war also klar, dass jemand, der über einen ungewöhnlichen Grad von Geschicklichkeit und Mut verfügte, vom Blitzableiter aus durch das Fenster eindringen konnte.

- durch Erreichen eines Abstandes von zweieinhalb Fuß (wir nehmen nun an, dass der Fensterladen ganz offen stand) konnte ein Räuber mit festem Griff das Gitter des Ladens erfassen.

Dann konnte er, den Blitzableiter loslassend, die Füße sicher gegen die Mauer stemmen und durch einen kühnen Schwung den Laden in Bewegung setzen, so dass dieser sich schloss,

und, wenn wir annehmen, dass das Fenster in dem Moment offenstand, konnte er sich gleich in das Zimmer hineinzuschwingen.

Ich möchte Sie besonders daran erinnern, dass ich von einem ganz ungewöhnlicher Grad an Körpergewandtheit sprach, um ein derart gefährliches und schwieriges Kunststück erfolgreich zu meistern.

Meine Absicht ist in erster Linie, Ihnen zu zeigen, dass die Sache möglicherweise gelungen war: -

aber zweitens und vor allem möchte ich ihnen die überaus ungewöhnliche - fast übernatürliche Art der Geschicklichkeit deutlich machen, die dies möglich gemacht hatte.

Sie werden zweifellos, in der Sprache der Juristen, sagen, dass ich, 'um meinen Fall durchzuführen',

die Geschicklichkeit, die in dieser Angelegenheit notwendig ist, eher unterschätzen sollte, als auf eine hohe Einschätzung zu bestehen.

Dies mag die juristische Praxis sein, entspricht aber nicht dem gesunden Menschenverstand.

Mein Endziel ist ausschließlich die Wahrheit.

Mein nächster Zweck ist es, Sie auf den Zusammenhang aufmerksam zu machen, der zwischen der außergewöhnlichen Behändigkeit, von der ich soeben sprach, und der sonderbaren schrillen (oder rauen) und stockenden Stimme,

über deren Nationalität die Aussagen der Zeugen sich nicht einigen konnten, und bei der laut Zeugenaussage keine Silben erkennbar waren.“

Bei diesen Worten ging mir eine vage, noch nicht zu Ende gedachte Vorstellung durch den Kopf, was Dupin gemeint haben könnte.

Ich schien kurz davor, zu verstehen, ohne verstehen zu können - Menschen stehen manchmal kurz vor einer Erinnerung, ohne sich aber letztendlich wirklich erinnern zu können.

Mein Freund fuhr mit seinen Ausführungen fort.

„Sie werden sehen“, sagte er, „dass ich die Frage von der Art des Einstiegs auf jene der Flucht verschoben habe.

Ich wollte Sie davon zu überzeugen, dass beides auf dieselbe Art, am selben Ort geschah.

Betrachten wir nun das Innere des Zimmers.

Verschaffen wir uns einen Überblick, wie es hier aussah.

Man behauptet, die Schubladen der Kommode seien durchwühlt worden, wobei eine Menge Kleidungsstücke darin verblieben waren.

Die Schlussfolgerung hier ist absurd.

Es ist eine blosse Vermutung - eine sehr alberne - und nichts weiter.

Wie können wir wissen, ob die noch in den Schubfächern befindlichen Dinge nicht all jene waren, die sich ursprünglich darin befanden?

Madame L'Espanaye und ihre Tochter führten ein sehr zurückgezogenes Leben – empfingen keine Besuche - gingen selten aus – sie hatten wenig Verwendung für unterschiedliche Kleider.

Das, was gefunden wurde, war zumindest von jener guten Qualität, die vom Besitz dieser Damen zu erwarten war.

Wenn ein Dieb etwas gestohlen hatte, warum nahm er nicht das Wertvollste - warum nahm er nicht alles?

Mit einem Wort, warum ließ er viertausend Francs in Gold zurück, um sich vielleicht mit einem Bündel getragener Kleider davonzumachen?

Das Gold ist zurückgeblieben.

Beinahe die ganze von Monsieur Mignard, dem Banker, erwähnte Summe wurde in zwei Beuteln auf dem Fußboden gefunden.

Ich möchte Sie daher bitten, die Gedanken an die irrige Annahme eines Motivs zu verwerfen, der im Kopf der Polizeibeamten entstanden ist, weil es eine Zeugenaussage über Geld gibt, das an der Tür abgeliefert worden war.

Bei jedem von uns treffen zu jeder Zeit unseres Lebens zehnmal merkwürdigere Umstände zusammen als dieser (dass Geld geliefert und der Empfänger drei Tage darauf ermordet wird) ohne dass wir sie überhaupt wahrnehmen.

Zufälle sind im allgemeinen ein großes Hindernis für jene Sorte Denker, die von der Wahrscheinlichkeitstheorie nichts wissen -

die Theorie, in der wir der ruhmreichsten menschlichen Forschung die ruhmvollsten Errungenschaften verdanken.

Wäre in vorliegendem Fall das Geld weg gewesen, würde die Tatsache, dass es vor drei Tagen geliefert worden war, mehr als ein bloßer Zufall sein.

Sie würde uns in dieser Vorstellung eines Motivs bestärken.

Wenn wir aber unter den wahren Umständen das Gold als Motiv für die Gewalttat annehmen wollen,

müssen wir auch annehmen, dass Mörder ein wankelmütiger Idiot war, der sein Gold und sein Motiv liegen gelassen hat.

Wenn wir nun die Punkte, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit gelenkt habe, fest im Auge behalten –

diese sonderbare Stimme, diese außergewöhnliche Behändigkeit und das erstaunliche Fehlen eines Motivs in einem so außerordentlich entsetzlichen Mordfall –, wollen wir einen Blick auf das Gemetzel selbst werfen.

Hier haben wir eine Frau, mit Händen erdrosselt und dann mit dem Kopf nach unten in den Kamin hinauf gepresst.

Gewöhnliche Mörder wenden keine derartigen Tötungsmethoden an.

Und vor allem werden sie ihr Opfer nicht derart verbergen.

Sie werden zugeben, dass in der Art, wie die Leiche in den Kamin hineingezwängt wurde, etwas so unerhört Scheußliches liegt -

dass es sich mit unseren üblichen Begriffen von menschlichem Handeln nicht vereinbaren lässt, selbst dann nicht, wenn wir annehmen, dass die Täter die verdorbensten Menschen waren.

Bedenken Sie auch, welche Kraft dazu nötig war, die Leiche in eine so enge Öffnung hinauf zu stoßen, dass es der vereinten Anstrengungen mehrerer Personen bedurfte, um sie wieder hinunter zu ziehen!

Beschäftigen wir uns nun mit anderen Hinweisen darauf, dass hier eine fast übermenschliche Kraft im Spiel gewesen ist.

Auf dem Herd lagen dicke Strähnen - sehr dicke Strähnen - grauen Menschenhaares.

Sie wurden mit den Wurzeln ausgerissen.

Sie sind sich des großen Kraftaufwandes bewusst, den es bedarf, um nur zwanzig bis dreißig Haare zusammen aus dem Kopf zu reißen.

Sie haben diese Haarsträhnen ebenso gesehen wie ich.

Ihre Wurzeln (ein scheußlicher Anblick! es waren Stücke der Kopfhaut daran-) wurden gewiss mit der übermenschlichen Kraft ausgerissen, die angewendet wurde, um vielleicht eine halbe Million Haare auf einmal auszureißen.

Der Hals der alten Dame war nicht bloss durchschnitten, sondern der Kopf war fast vollständig vom Körper getrennt: offenbar nur mit einem Rasiermesser.

Ich bitte Sie auch, die brutale Grausamkeit dieser Taten zu beachten.

Von den Quetschwunden an Madame L'Espanayes Leiche ganz zu schweigen.

Monsieur Dumas und sein werter Kollege Monsieur Etienne haben beide ausgesagt, dass sie von einem stumpfen Gegenstand herrührten; und so weit haben die Herren da recht.

Der stumpfe Gegenstand war das Steinpflaster des Hofes, auf den das Opfer durch das Fenster geworfen wurde, vor dem das Bett steht.

So einfach diese Annahme uns jetzt erscheint, sie entging der Polizei aus demselben Grund, aus dem sie die Breite der Fensterläden nicht bemerkt hatte -

weil nämlich die Angelegenheit mit den Nägeln ihre Wahrnehmung hermetisch vor der Möglichkeit verschlossen hatte, dass die Fenster doch jemals geöffnet worden seien.

Wenn Sie nun, zusätzlich zu all diesen Dingen, die wüste Unordnung des Zimmers gründlich bedacht haben,

sind wir nun bereit zur Kombination der Vorstellungen einer erstaunlichen Behändigkeit, einer übermenschlichen Stärke, einer brutalen Grausamkeit, einer Metzelei ohne Motiv, einer entsetzlichen, gänzlich unmenschlichen Groteske,

und einer Stimme, deren Klang den Ohren vieler Zeugen der verschiedensten Nationalität fremd war, und die keine klaren oder verständlichen Silben bilden konnte.

Zu welchem Ergebnis führt uns dies?

Welchen Eindruck habe ich bei Ihnen erweckt?“

Ich fühlte, wie mich ein Schauder durchrieselte, als Dupin mir diese Frage stellte.

„Ein Wahnsinniger“, sagte ich, „hat diese Tat begangen - ein Tobsüchtiger, der aus der benachbarten Irrenanstalt entkommen ist.“

„In gewisser Beziehung“, antwortete er, „ist Ihr Verdacht nicht unbegründet.

Aber die Stimme Wahnsinniger, selbst wenn sie Tobsuchtsanfälle haben, gleicht niemals jener eigentümlich Stimme, die an der Treppe vernommen worden ist.

Wahnsinnige gehören irgendeiner Nation an und ihre Sprache besteht immer aus zusammenhängenden Silben, auch wenn die Worte noch so unzusammenhängend sind.

Außerdem haben Wahnsinnige nicht solches Haar, wie ich es hier in meiner Hand habe.

Ich habe dieses kleine Haarbüschel aus den zusammengekrampften Fingern von Madame L'Espanaye gelöst.

Sagen Sie mir, was Sie davon denken.“

„Dupin!“, sagte ich ganz überwältigt; „dieses Haar ist sehr ungewöhnlich - es ist kein Menschenhaar.“

„Das habe ich auch nicht behauptet“, erwiderte er; „aber ehe wir diesen Punkt feststellen, bitte ich Sie, einen Blick auf die kleine Skizze zu werfen, die ich auf diesem Papier gemacht habe.

Es ist eine genaue Wiedergabe von dem, was in einer Zeugenaussage als 'dunkle Blutergüsse und tiefe Abdrücke von Fingernägeln' am Hals von Mademoiselle L'Espanaye beschrieben wurde,

und in einer anderen (von den Messrs. Dumas und Etienne) als eine 'Reihe blauer Flecken, die offenbar von einem heftigen, mit Fingern ausgeübten Druck herrührten'.“

„Sie werden bemerken“, fuhr mein Freund fort, das Blatt vor uns auf dem Tisch ausbreitend, „dass diese Zeichnung auf einen festen eisernen Griff schließen lässt.

Von einem Abgleiten ist hier nichts zu bemerken.

Jeder Finger hat - möglicherweise bis zum Tod des Opfers - den furchtbaren Griff beibehalten, mit dem er sich zunächst eingekrallt hatte.

Versuchen Sie jetzt einmal, Ihre sämtlichen Finger gleichzeitig auf die Eindrücke zu legen, die Sie hier sehen.“

Ich versuchte es, jedoch vergebens.

„Wir greifen die Sache vielleicht nicht ganz richtig an“, meinte Dupin.

„Das Papier liegt auf einer ebenen Fläche; aber der menschliche Hals hat eine zylindrische Form.

Hier ist ein rundes Stück Holz, das ungefähr den Umfang eines Halses hat.

Wickeln Sie die Zeichnung darum und versuchen Sie es noch einmal.“

Ich tat es; aber es war offenbar noch schwieriger als zuvor.

„Dies“, sagte ich, „ist nicht der Abdruck einer menschlichen Hand.“

„Lesen Sie nun“, erwiderte Dupin, „diese Stelle von Cuvier.“

Es war ein ausführlicher anatomischer und allgemein beschreibender Bericht über den großen rot-gelben Orang-Utan auf den ostindischen Inseln.

Die riesige Gestalt, die gewaltige Kraft und Behändigkeit, die ungebändigte Wildheit und der Nachahmungstrieb dieses Säugetieres sind hinreichend bekannt.

Ich begriff sofort die grauenhaften Einzelheiten der Mordtaten.

„Die Beschreibung der Finger“, sagte ich, nachdem ich den Artikel zu Ende gelesen hatte, „stimmt genau mit dieser Zeichnung überein.

Ich sehe, dass kein anderes Tier als ein Orang-Utan von der hier genannten Gattung solche Fingereindrücke wie die von Ihnen gezeichneten hinterlassen könnte.

Auch das kleine Büschel rotbrauner Haare stimmt mit Cuviers Beschreibung von dem Tier überein.

Aber ich kann immer noch nicht alle Einzelheiten des grauenhaften Geheimnisses verstehen.

Im Übrigen hat man zwei streitende Stimmen gehört, und eine davon sei unbestritten die eines Franzosen gewesen.“

„Das ist richtig; und Sie werden sich ebenso an eine Äußerung dieser Stimme erinnern, die die Zeugen einstimmig gehört hatten - den Ausdruck 'mon Dieu'.

Dies wurde, unter den Umständen, von einem der Zeugen (Montani, der Konditor) zurecht als Ausdruck einer Vorhaltung oder eines Protests beschrieben.

Auf diesen beiden Worten beruht meine Hoffnung, das Rätsel voll und ganz zu lösen.

Ein Franzose wusste von dem Mord.

Es ist möglich – ja sogar wahrscheinlich – dass er vollkommen unschuldig an dem geschehenen blutigen Drama ist.

Der Orang-Utan ist ihm vielleicht entflohen.

Er hat ihn möglicherweise bis zu dem betreffenden Zimmer verfolgt; konnte das Tier aber, unter den schockierenden Umständen, die folgten, nicht wieder einfangen.

Es läuft immer noch frei umher.

Ich werde diese Vermutungen nicht weiter verfolgen - denn es sind nichts weiter als Vermutungen -

da die Gedankengänge, auf denen sie basieren, nicht tief genug sind, um von meinem eigenen Verstand anerkannt zu werden, und weil ich nicht erwarten kann, dass jemand anderer ihnen Bedeutung beilegen sollte.

Wir werden sie also Vermutungen nennen.

Wenn, wie ich das annehme, der betreffende Franzose unschuldig an dem Blutbad ist, wird die Anzeige, die ich gestern Abend auf unserem Heimweg im Büro der 'Le Monde' aufgab,

(ein Blatt, das die Interessen der Schifffahrt vertritt und das besonders von Seefahrern gelesen wird) ihn bald in unsere Wohnung führen.“

Er reichte mir eine Zeitung, und ich las: EINGEFANGEN - Im Bois de Boulogne wurde am frühen Morgen des ... (der Tages nach dem Mord) ein sehr großer rotbrauner Orang-Utan der Spezies Borneo eingefangen.

Der Eigentümer (der nachweislich ein Matrose auf einem maltesischen Schiff ist) kann das Tier in Empfang nehmen,

wenn er sich als Besitzer ausweisen kann und bereit ist, die geringen Kosten für das Einfangen und die Verpflegung des Tieres zu bezahlen.

Melden Sie sich in Faubourg Saint-Germain, Rue ... Nr. ... im dritten Stock.

„Wie war es möglich“, fragte ich, „dass Sie wissen konnten, dass der Mann ein Matrose ist und auf einem maltesischen Schiff dient?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Dupin.

„Ich bin nicht sicher, dass es so ist.

Allerdings habe ich hier ein kleines Stück Band, das seiner Form und seinem fettigen Aussehen nach offenbar zum Binden eines jener Zöpfe verwendet wurde, wie die Matrosen sie so gern tragen.

Außerdem ist es mit einem Knoten verschlungen, den fast nur Matrosen, insbesondere die auf maltesischen Schiffen dienenden, binden können.

Ich habe das Band am unteren Ende des Blitzableiters gefunden.

Es konnte keiner der Verstorbenen gehört haben.

Wenn ich nun mit meiner Vermutung über dieses Band, dass der Franzose ein Matrose sei und zu einem maltesischen Schiff gehöre, doch falsch liege, kann das, was ich in dieser Anzeige gesagt habe, dennoch nicht schaden.

Irre ich mich, so wird er höchstens denken, ich hätte mich durch irgendeinen Umstand, den zu erforschen er sich nicht die Mühe geben wird, irreführen lassen.

Habe ich aber recht, so ist sehr viel gewonnen.

Wenngleich er sich bewusst ist, dass er unschuldig an den Morden ist, wird der Franzose zunächst natürlich zögern, auf die Anzeige zu antworten - und nach seinem Orang-Utan zu fragen.

Er wird etwa so überlegen: - 'Ich bin unschuldig; ich bin arm; mein Orang-Utan ist von großem Wert - für einen Mann in meinen Verhältnissen bedeutet er ein kleines Vermögen -

warum sollte ich ihn wegen einer vielleicht völlig unbegründeten Befürchtung verlieren?

Er ist hier, in meiner Reichweite.

Er ist im Bois de Boulogne eingefangen worden - also sehr weit entfernt vom Schauplatz jener Mordtaten.

Wie sollte jemand auf die Vermutung kommen, dass ein brutales Tier eine solche Tat begangen habe?

Die Polizei ist ratlos - es ist ihr nicht gelungen, auch nur den kleinsten Anhaltspunkt zu finden.

Selbst wenn es ihnen gelänge, der Spur des Tieres nachzugehen, so würde es doch unmöglich sein, mir zu beweisen, dass ich Mitwisser der Mordtaten bin, oder mich auf Grund dieser Mitwissenschaft zu verurteilen.

Vor allem jedoch kennt man mich.

Der Inserent dieser Anzeige bezeichnet mich als den Besitzer des Tieres.

Ich bin nicht sicher, wie weit sich seine Kenntnis meiner Person erstreckt.

Sollte ich es unterlassen, einen so wertvollen Besitz zu beanspruchen, von dem man weiß, dass es mir gehört, werde ich gerade dadurch den Verdacht zumindest auf das Tier lenken.

Es wäre unklug von mir, die Aufmerksamkeit der Polizei auf mich oder auf das Tier zu lenken.

Ich werde auf die Anzeige antworten, den Orang-Utan abholen und ihn eingesperrt halten, bis Gras über die Sache gewachsen ist.'“

In diesem Augenblick hörten wir einen Schritt an der Treppe.

„Halten Sie Ihre Pistolen bereit“, sagte Dupin, „aber verwenden oder zeigen Sie diese nicht, bis ich Ihnen ein Zeichen gebe.“

Da die Haustür offen stand, war der Besucher ohne zu läuten eingetreten und befand sich schon an der Treppe.

Nun schien er allerdings zu zögern.

Sogleich hörten wir, wie er wieder hinunterging.

Dupin ging rasch zur Tür, als wir den Mann wieder heraufkommen hörten.

Diesmal kehrte er nicht wieder um, sondern trat entschlossen an unsere Zimmertür heran und klopfte.

„Herein!“ rief Dupin in heiterem, herzlichem Ton.

Ein Mann trat ein.

Er war offenbar Matrose - eine große, kräftige, muskulös aussehende Gestalt, mit einem gewissen offenen, verwegenen Ausdruck, der durchaus nicht abstoßend war.

Sein stark von der Sonne verbranntes Gesicht wurde über die Hälfte von einem Schnurr- und Backenbart verdeckt.

Er trug einen großen Knüppel aus Eichenholz, schien aber sonst keine Waffe bei sich zu haben.

Er verbeugte sich unbeholfen und sagte „guten Abend“, in französischem Akzent, der, obwohl er etwas nach Neufchâtel klang, doch deutlich seine Pariser Abstammung verriet.

„Setzen Sie sich, mein Freund“, sagte Dupin.

„Ich vermute, dass Sie wegen des Orang-Utans kommen.

Auf mein Wort, ich beneide Sie beinnahe um ihn; es ist ein außerordentlich schönes und zweifellos wertvolles Tier.

Für wie alt halten Sie es wohl?“

Der Matrose holte tief Atem, mit der Miene eines Menschen, dem eine Last vom Herzen fällt, und erwiderte dann in ruhigem Ton:

„Das kann ich Ihnen nicht genau sagen - aber er kann kaum mehr als vier oder fünf Jahre alt sein.

Haben Sie ihn hier?“

„Oh nein, hier hatten wir keinen passenden Raum, in dem wir ihn hätten unterbringen können.

Er ist in einem Mietstall ganz in der Nähe, in der Rue Dubourg.

Sie können ihn morgen Früh bekommen.

Sie können sich doch jedenfalls als rechtmäßiger Besitzer ausweisen?“

„Gewiss kann ich das, mein Herr.“

„Es tut mir sehr leid, mich von dem Tier zu trennen“, sagte Dupin.

„Ich will nicht, dass Ihre Mühe unbelohnt bleibe, mein Herr“, sagte der Mann.

„Das könnte ich nicht verlangen.

Ich bin bereit, Ihnen für das Auffinden des Tieres eine angemessene Belohnung zu zahlen.“

„Nun“, antwortete mein Freund, „das ist ja gewiss recht schön.

Lassen Sie mich nachdenken!

– was könnte ich wohl bekommen?

Oh! Ich werde es Ihnen sagen.

Dies soll meine Belohnung sein.

Sie sollen mir alles mitteilen, was Sie über die in der Rue Morgue verübten Mordtaten wissen.“

Dupin hatte die letzten Worte in leisem, sehr ruhigem Ton gesprochen.

Ebenso ruhig schritt er nun auf die Tür zu, verschloss sie und steckte den Schlüssel in seine Tasche.

Dann zog er eine Pistole aus der Tasche und legte sie, ohne die geringste Hast, auf den Tisch.

Das Gesicht des Matrosen wurde rot, als kämpfe er mit einem Erstickungsanfall.

Er sprang auf und ergriff seinen Knüppel, aber im nächsten Augenblick fiel er in seinen Stuhl zurück, er zitterte heftig und wurde totenbleich.

Er sprach kein Wort.

Ich empfand tiefes Mitleid mit dem Mann.

„Mein Freund“, fuhr Dupin in gütigem Ton fort, „Sie regen sich ganz unnötigerweise auf - gewiss.

Wir wollen Ihnen keineswegs schaden.

Ich gebe Ihnen mein Wort als Ehrenmann und als Franzose, dass Sie von uns nicht das Geringste zu befürchten haben.

Ich weiß sehr gut, dass Sie an den in der Rue Morgue verübten Gräueltaten unschuldig sind.

Freilich lässt sich nicht leugnen, dass Sie gewissermaßen in diese Sache verwickelt sind.

Aus dem, was ich bereits gesagt habe, werden Sie wohl erkennen, dass mir Mittel zu Gebote stehen, Informationen zu dieser Angelegenheit zu erhalten – Mittel, von deren Tragweite Sie nicht träumen konnten.

Die Sache steht nun so.

Sie haben nichts getan, was Sie verhindern hätten können - und gewiss nichts, das Sie schuldig macht.

Sie haben auch keinen Diebstahl begangen, als Sie die Gelegenheit dazu hatten.

Sie haben nichts zu verbergen.

Sie haben keinen Grund dazu.

Andererseits sind Sie als ehrenhafter Mensch dazu verpflichtet, alles zu gestehen, was Sie wissen.

Ein Unschuldiger wurde nun festgenommen, dem das Verbrechen vorgeworfen wird, dessen wahren Täter Ihnen bekannt ist.“

Der Matrose hatte, während Dupin diese Worte sprach, seine Geistesgegenwart großteils wiedererlangt; aber seine ursprüngliche Dreistigkeit war vollständig verschwunden.

„So wahr mir Gott helfe“, sagte er nach einer kurzen Pause, „ich will Ihnen alles sagen, was ich von der Sache weiß; - aber ich erwarte nicht, dass Sie auch nur die Hälfte davon glauben – es wäre töricht von mir, das zu denken.

Dennoch bin ich unschuldig und ich werde alles eingestehen, auch wenn es mich das Leben kosten sollte.“

Was er uns dann mitteilte, war Folgendes.

Er hatte unlängst eine Reise zum indischen Archipel gemacht.

Einige Matrosen, denen er sich angeschlossen hatte, waren in Borneo gelandet und machten einen Ausflug in das Innere des Landes.

Es gelang ihm und einem seiner Kameraden, den Orang-Utan zu fangen.

Da sein Gefährte bald darauf starb, kam er in den alleinigen Besitz des Tieres.

Nach vielen Schwierigkeiten, die das Tier ihm auf der Reise durch seine unbezähmbare Wildheit bereitete, kam er endlich glücklich in seiner Wohnung in Paris an,

wo er das Tier, um der unangenehmen Neugier der Nachbarn auszuweichen, fest eingeschlossen hielt,

solange bis es von einer Fußwunde geheilt sein würde, die es sich an Bord durch das Eindringen eines Splitters zugezogen hatte.

Sein Plan war letztlich, den Affen zu verkaufen.

Er kam an jenem Abend, oder besser gesagt, am frühen Morgen, an dem die Mordtaten verübt wurden, von einem Matrosenfest nach Hause zurück

und fand dort das Tier in seinem Schlafzimmer, in das es aus dem angrenzenden Kämmerchen, wo es der Matrose angebunden hatte und sicher verwahrt glaubte, ausgebrochen war.

Es saß mit einem Rasiermesser in der Hand, vollständig eingeseift, vor dem Spiegel, wo es sich zu rasieren versuchte, ein Vorgang, bei dem es wahrscheinlich seinen Herrn zuvor durch das Schlüsselloch des Kämmerchens beobachtet hatte.

Entsetzt von dem Anblick einer so gefährlichen Waffe in den Händen eines so wilden Tieres, das möglicherweise davon Gebrauch machen konnte, verlor der Mann im ersten Augenblick den Kopf.

Für gewöhnlich war es ihm gelungen, das Tier selbst in seinen wildesten Momenten mit einer Peitsche zu beruhigen, und zu diesem Mittel griff er auch jetzt.

Als aber der Orang-Utan das sah, sprang er mit einem Satz durch die geöffnete Zimmertür, jagte die Treppe hinab und entfloh durch ein zufällig offen stehendes Fenster auf die Straße.

Der Franzose folgte verzweifelt; der Affe, der immer noch das Rasiermesser in der Hand hatte, blieb zuweilen stehen, um sich nach seinem Verfolger umzusehen und ihm Grimassen zu schneiden, bis dieser ihn beinahe erreicht hatte.

Dann entkam er wieder.

Auf diese Weise setzte sich die Jagd lange Zeit fort.

In den Straßen herrschte tiefe Stille, es war fast drei Uhr morgens.

Als der Flüchtige eine hinter der Rue Morgue liegende Gasse erreicht hatte, wurde seine Aufmerksamkeit durch einen Lichtschein gefesselt, der durch das offene Fenster aus Madame L'Espanayes Zimmer im vierten Stock ihres Hauses schimmerte.

Das Tier stürzte auf das Gebäude zu, es bemerkte den Blitzableiter, kletterte mit verblüffender Geschwindigkeit daran hinauf,

klammerte sich an den Fensterladen, der bis zur Mauer offen stand, und schwang sich daran direkt an das Kopfende des Bettes.

Das ganze Kunststück dauerte weniger als eine Minute.

Den Fensterladen stieß der Affe, sobald er in das Zimmer gedrungen war, wieder zurück.

Der Matrose war unterdessen sowohl erfreut als auch tief beunruhigt.

Er hoffte, das Tier nun wieder einzufangen, da es kaum einen andern Ausweg aus der Falle gab, in die es geraten war, als den Blitzableiter, und beim Herunterklettern würde er sich seiner bemächtigen.

Andrerseits gab es Grund genug zu fürchten, was es im Haus anrichten könnte.

Diese letzte Erwägung drängte den Matrosen, den Flüchtigen weiter zu verfolgen.

An einem Blitzableiter hochzuklettern ist vor allem für einen Matrosen recht schwierig; als er jedoch bis zur Höhe des Fensters, das links von ihm lag, gekommen war, konnte er nicht weiter;

es gelang ihm aber, sich so weit vorzubeugen, dass er einen Blick in das Innere des Zimmers werfen konnte.

Bei dem entsetzlichen Anblick, der sich ihm darin bot, wäre er beinahe abgestürzt.

Nun wurde die Stille der Nacht plötzlich durch jenes furchtbare Geschrei unterbrochen, das die Bewohner der Rue Morgue aus dem Schlaf weckte.

Madame L'Espanaye und ihre Tochter waren, in ihre Nachtkleider gehüllt, offenbar damit beschäftigt gewesen, einige Papiere in der schon erwähnten eisernen Kassette zu ordnen,

die sie zu diesem Zweck mitten in das Zimmer gestellt hatten.

Sie war offen, und ihr Inhalt lag auf dem Fußboden daneben.

Die Opfer mussten mit ihren Rücken zum Fenster gesessen haben;

und da eine kleine Weile zwischen dem Eindringen des Tieres und den Schreien verstrich, scheint es möglich, dass sie die Bestie nicht sofort bemerkt hatten.

Das Zurückschlagen des Fensterladens haben sie selbstverständlich dem Wind zugeschrieben.

Als der Matrose hineinblickte, hatte die riesige Bestie Madame L'Espanaye am Haar gepackt (das lose war, weil sie es gekämmt hatte)

und schwenkte das Rasiermesser vor ihrem Gesicht, die Bewegungen eines Barbiers nachahmend.

Die Tochter lag lang ausgestreckt und regungslos auf dem Fußboden; sie war ohnmächtig geworden.

Die Schreie und Befreiungsversuche der alten Dame (während der ihr das Haar vom Kopf gerissen wurde) änderten die zuvor wahrscheinlich friedlichen Absichten des Orang-Utan in wildeste Wut.

Mit einem kräftigen Schwung seines muskulösen Armes trennte er den Kopf der Dame beinahe ganz vom Rumpf.

Der Anblick des Blutes steigerte seine Wut bis zur Tollheit.

Zähnefletschend und mit funkelnden Augen stürzte er sich auf den Körper des Mädchens, grub seine entsetzlichen Krallen in ihren Hals und würgte sie, bis sie tot war.

Seine wild umherstreifenden Augen fielen in diesem Augenblick auf das Kopfende des Bettes, hinter dem das schreckensbleiche Gesicht seines Herrn soeben sichtbar wurde.

Die Wut des Tieres, das zweifellos noch die gefürchtete Peitsche vor Augen hatte, verwandelte sich sofort in Angst.

Wohl wissend, dass es Strafe verdiene, schien es die Spuren seiner Bluttat rasch verwischen zu wollen und sprang in nervöser Hast im Zimmer umher;

riss die Möbel um und zerschlug sie und zerrte das Bettzeug vom Bettgestell.

Schließlich ergriff es die Leiche der Tochter und zwängte sie in den Schornstein hinauf, wo sie später gefunden wurde;

dann stürzte es sich auf die der alten Dame, die es sogleich kopfüber zum Fenster hinaus schleuderte.

Als sich der Affe mit seiner verstümmelten Last dem Fenster näherte, fuhr der Matrose erschrocken zurück und ließ sich am Blitzableiter hinunter gleiten und beeilte sich, nach Hause zu kommen -

er fürchtete die Folgen der Metzelei und kümmerte sich in sich seinem Schrecken nicht um das Schicksal des Orang-Utans.

Die Worte, die von den die Treppe hinauflaufenden Menschen vernommen wurden, waren die Rufe des Franzosen von Angst und Entsetzen, gemischt mit dem schrillen, teuflischen Gekreisch der Bestie.

Mir bleibt kaum noch etwas hinzuzufügen.

Der Orang-Utan muss, gerade ehe die Tür von der Menge aufgebrochen wurde, aus dem Zimmer entflohen sein.

Er muss das Fenster geschlossen haben, nachdem er daraus entkommen war.

Schließlich wurde er von seinem rechtmäßigen Besitzer wieder eingefangen, der ihn zu einem hohen Preis an den „Jardin des Plantes“ verkauft hat.

Le Don wurde sofort entlassen, als wir im Büro des Polizeipräfekten unseren schriftlichen Bericht über diese Angelegenheit (mit einigen Anmerkungen von Dupin) niedergelegt hatten.

Obwohl der Präfekt meinen Freund sehr schätzte, konnte er doch eine gewisse Gereiztheit über die Wendung der Dinge nicht verbergen,

und er verriet dies durch ein oder zwei spöttische Bemerkungen über Leute, die ihre Nase in Dinge steckten, die sie im Grunde nichts angingen.

„Lass ihn reden“, sagte Dupin, der ihn keiner Antwort gewürdigt hatte.

„Lass ihn reden; er wird sein Gewissen dadurch beruhigen und mir genügt es, ihn auf seinem eigenen Gebiet geschlagen zu haben.

Dennoch ist es nicht verwunderlich, dass er die Lösung dieses Geheimnisses nicht zu finden vermochte;

da unser Freund, der Präfekt, eben zu schlau ist, um tiefsinnig sein zu können.

Seine Weisheit hat keinen soliden Boden.

Sie gleicht den Abbildungen der Göttin Laverna, das heißt, sie besteht nur aus einem Kopf und hat keinen Körper – oder höchstens Kopf und Schultern, wie ein Stockfisch!

Aber er ist dennoch ein ganz famoser Kerl.

Ich schätze ihn vor allem wegen einer Gabe, der er den Ruf, ein Genie an Scharfsinn zu sein, hauptsächlich verdankt,

nämlich wegen seiner Art, 'de nier ce qui est, et d'expliquer ce qui n'est pas.'“ – (*)

(*) ('zu verleugnen, was ist und zu erklären, was nicht ist') - Rousseau - Nouvelle Heloise.